Wer in diesen Sommertagen klimafreundlich korrekt mit dem Zug zu den Opernfestivals pilgert, hat die Qual der Wahl. Und erlebt bei der Ankunft am Bahnhof von Bayreuth, Bregenz oder Heidenheim dennoch stets ein Déjà-vu. Schließlich landet man in allen drei Fällen in so gar nicht weltstädtischem Ambiente, trifft stattdessen zunächst auf die durchaus verwechselbare kleine Welt aus Dönerimbiss und Zeitungskiosk, tritt also in den Kosmos von Provinznestern ein. Und gerade hier sollen wir nun ausgesucht schönen Sängerstimmen, stolzen Maestri und krassen Regisseuren begegnen?
Es ist nun gerade die Kontrastdynamik aus tiefenentspannter Kleinstadtatmosphäre und hochfliegender künstlerischer Größe, die den Festivals ihren eigentlichen und höchst relevanten Charakter verleiht. Die Beschaulichkeit der Orte verändert das Schauen und Hören von Verdi und Wagner ganz entscheidend. Statt per Abonnement verordnetem regelmäßigen Kulturkonsum wird das Lauschen einer Arie auf einmal wieder verblüffend neu. Da lassen wir uns gleichsam unschuldig darauf ein, was uns ein „Parsifal“, ein „Don Carlo“, eine „Madama Butterfly“ wirklich zu sagen haben. Wo die Kunst nicht alltäglich ist, da wird sie zum Fest, da trifft sie uns in unserem Innersten, da verwandelt sie uns.
Das Glück der Visionäre
Die Natur in den Freiluftspielstätten spielt dabei ebenso mit, wie der Weg bereits das Ziel ist. In Heidenheim schreitet man die letzten Meter hinauf zur Rittersaal-Ruine zwingend zu Fuß – durch den stimmungsvollen Hofplatz vorbei am Renaissance-Schloss, um schließlich einzutreten in die imposanten Mauerreste der Burg Hellenstein. Von ihr stehen gerade noch so viele resonanzgebende Seitenwände, dass die Sänger bestens zu vernehmen sind. Auch der gestirnte Abendhimmel spielt gnädig mit – das in der Schwäbischen Alb oft befürchtete Gewitter macht meist musengnädig einen Bogen um den Schlossberg. Marcus Bosch hat das Glück der Visionäre. Der dirigierende Intendant bringt das traditionsreiche regionale Opernfestival auf Expansions- und Exzellenzkurs und damit vollends auf die Landkarte der besten Sommerfestivals.
Mancher Fan schwärmt schon von der süddeutschen Variante der Festspiele im südenglischen Glyndebourne. Die Atmosphäre in der Rittersaal-Ruine und ihrem weitläufigen Umfeld ist auf ganz andere Weise herrlich wie der rosengezierte Picknick-Park in East Sussex. Auf der Alb steht diesmal ein doppelter Verdi auf dem Programm. Die Serie der Frühwerke setzt Bosch mit „Giovanna d’Arco“ fort. Und mit dem „Don Carlo“ steht eine Schiller-Oper im Mittelpunkt, die Bosch nach dem starken „Tannhäuser“ erneut Regisseur Georg Schmidtleitner anvertraut hat. Auf diesem anderen Grünen Hügel paart sich auf sympathische Weise höchste Professionalität mit einem festival-familiären Do-it-Yourself-Geist: Das Authentische, nicht das Gewollte, hier wird’s Ereignis.
Wasser, Wind und Mond
Weiter geht’s gen Westen, wo wir über Lindau schnell in Bregenz einfahren. Für das Spiel auf dem See – in diesem Jahr erneut Andreas Homokis Inszenierung von Puccinis „Madama Butterfly“ – haben Wasser, Wind und Mond ebenso eine Hauptrolle inne wie die dreifach alternierenden Sängerinnen der japanischen Geisha. Auch am Bodensee ergänzt mit dem „Ernani“ ein früher Verdi das Opernprogramm.
Von hier – das Naturparadies von Vorarlberg mit seiner Poesie der Bergwelt lädt natürlich zum zusätzlichen Verweilen ein – rollt der persönliche Opernfestspielzug hoffentlich pünktlich weiter: nach München (zwei Stunden), nach Salzburg (vier Stunden) oder doch nach Bayreuth (viereinhalb Stunden). Die Qual der Wahl bleibt.