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Opern-Kritik: Opernfestspiele Heidenheim – Tannhäuser

Wagner kommt vom Müssen – und von Mendelssohn

(Heidenheim, 22.7.2022) Es muss nicht immer Bayreuth sein: Der dirigierende Intendant Marcus Bosch und der Regisseur Georg Schmidtleitner beweisen auf der schwäbischen Alb unter freiem Himmel mit einem gefeierten Sängerensemble, wie stimmig und erhellend ihr neues Wagner-Bild ist.

vonPeter Krause,

Wer in diesen Festspielsommertagen aus der Großstadt kommend am Bahnhof von Bayreuth oder Heidenheim ankommt, kann sich kaum vorstellen, dass in dieser wohlanständig heilen kleinen Welt von Franken- oder Schwabenland so unheilige Orte wie Bordelle zu finden sind. Doch der schnelle Sex dürfte auch hier zu haben sein: Die Nachfrage generiert halt das Angebot. Richard Wagner wird das gewusst haben, als er seinen „Tannhäuser“ schrieb und aus der Dialektik zweier Prinzipien der Liebe – der üppig fleischlichen und der geistig reinen – seinen kühnen Wurf einer romantischen Oper schuf.

Und Georg Schmidtleitner muss gut recherchiert haben, respektive für seine Inszenierung der Opernfestspiele Heidenheim eine heimliche Feldforschung in Sachen käuflicher Liebe betrieben haben. Denn sein Bühnenbildner Stefan Brandtmayr hat an die imposante Rückwand der behutsam sanierten Rückwand der Ruine des Rittersaals von Schloss Hellenstein die unpersönlichen Zimmerchen einer modernen Liebeshalle geklebt, die so oder ähnlich an den einfallslosen Einfallstraßen von Provinz- wie Großstädten zu finden sind.

Leah Gordon als Elisabeth in Wagners „Tannhäuser“ bei den Opernfestspielen Heidenheim
Tannhäuser von Richerad Wagner bei den Opernfestpielen Heidenheim 2022

Dem Langhaarigen ist langweilig. Oder: Heinrich Tannhäuser ist Jonathan Meese

Das Motel einer Dame namens Venus ist hier freilich neben der Sexhöhle auch eine Spielhölle, was Heinrich Tannhäuser als Dauergast des Rotlicht-Etablissements den fixen Wechsel vom Lotterbett an den Spielautomaten ermöglicht. Sein initiales „Zu viel, zu viel“ wird so unmittelbar verständlich: Dem Langhaarigen ist langweilig. Das sexuelle Überangebot und die dauerhafte Verfügbarkeit der Chefin interessieren ihn längst nicht mehr. Schließlich ist der Mann ein Künstler, der den Exzess, das Spontane und Radikale seiner Selbstverwirklichung sucht. Das Motel-Bordell scheint der passende Ort des rastlosen Heimatlosen zu sein. Aufbruch und Ausbruch sind jederzeit möglich: Ankommen ist eh nicht erwünscht, wenn die eigene Freiheit des Kreativen absolut gesetzt ist.

Die Unterscheidung zwischen Unmoral und Moral funktioniert nicht mehr

Regisseur Georg Schmidtleitner, der mit dem Festspielintendant Marcus Bosch einen famosen, vielgerühmten „Ring“ am Staatstheater Nürnberg schuf, deutet nicht an, er zeigt so konkret und direkt wie möglich, was Wagner aus heutiger Sicht gemeint haben könnte – und legt die Finger in die Wunde einer konsumistischen Gesellschaft, die vor dem Supermarkt auf Schnäppchenjagd geht, um das Ersparte für eine schnelle Nummer bei Frau Venus einzusetzen. Die schick gewandeten Spießer von der Wartburg, die sich im Sängerkrieg als Songcontest der Gegenwart Autogramme der Stars holen, sind fraglos dieselben, die bei Bedarf mal im Motel absteigen.

Birger Radde als Wolfram von Eschenbach in Wagners „Tannhäuser“ bei den Opernfestspielen Heidenheim
Tannhäuser von Richerad Wagner bei den Opernfestpielen Heidenheim 2022

Wagners Gegenwelten kommen sich ganz nah. Die Alternative zwischen der Hure Venus und der Heiligen Elisabeth, zwischen Sex und Seele, zwischen Freiheit und Anpassung wird als hohles Konstrukt entlarvt. Die Unterscheidung zwischen Unmoral und Moral funktioniert nicht mehr, allenfalls als abgestandene Attitüde der Vertreter beider Seiten. Das hat Meisterregisseur Harry Kupfer in seinen „Tannhäuser“-Inszenierungen einst so gezeigt. Und darin folgt ihm Georg Schmidtleitner nun mit Fortune – dazu freilich mit einer deutlichen Schärfung vom Mittelalterlichen hinein ins Aktuelle.

Der dauerprovokativ clowneske Künstleranarchist

Dazu spielt er lustvoll auch mit dem Klischee – und einer listigen Referenz in Richtung Bayreuth, wo in diesem Jahr der „Tannhäuser“ gar nicht auf dem Programm steht. Denn der Sängerdarsteller des Tannhäuser darf den Künstlerextremisten als Verschnitt jenes Jonathan Meese geben, der in Bayreuth einst einen Vertrag als „Parsifal“-Regisseur hatte, dann aber den von der Festspielleitung ja geplanten Skandal seines Engagements mit der Ausladung bezahlte, als wäre er selbst ein Tannhäuser, der mit seinem kompromisslosen künstlerischen und politischen Wollen und Müssen einfach zu weit getrieben hatte.

James Kee singspielt diesen Meese-Verschnitt eines dauerprovokativ clownesken Künstleranarchisten grandios extremistisch, macht sich im Sängerkrieg an die feinen Damen der Festgesellschaft heran, zieht die moralinsaure Liedeskunst von der reinen Liebe, der seine Kollegen frönen, ironisch durch den Kakao. Dazu stürzt sich der Heldentenor (er debütierte mit dieser Rolle in Heidenheim) in die als mörderisch verschriene Partie mit einem Totaleinsatz, einer Frische und einer markanten Deklamation, dass es nie einen Zittermoment gibt. Seine Stimme ist nicht im klassischen Sinne schön, aber hat alle Farben, sie sitzt sicher, ist gut in der Maske geführt und hat unendliche Reserven.

James Kee als Tannhäuser in Wagners gleichnamiger Oper bei den Opernfestspielen Heidenheim
James Kee als Tannhäuser in Wagners gleichnamiger Oper bei den Opernfestspielen Heidenheim

Dieser Wolfram trägt rote Schuhe und wäre der ideale Partner für Elisabeth

Überhaupt sind es bei den Opernfestspielen Heidenheim im Vergleich zum Bayreuther Branchenprimus in Wagnerdingen nicht die etablierten großen Namen, sondern Sänger, die Marcus Bosch als dirigierender Intendant handverlesen ausgesucht hat – und denen er den Sprung ins schwere Fach zutraut. Bosch beweist, dabei mehr als eine glückliche Hand zu haben. Sein Wolfram Birger Radde bricht aus dem über Generationen von Baritonen tradierten Fischer-Dieskau-Modell des jeden Nuance bis ins Manierierte hinein auslotenden Überinterpretierens aus und entdeckt die Figur durch seine sängerische Natürlichkeit neu. Da wirkt jede Phrase authentisch, weil persönlich durchdrungen und aufrichtig gemeint, da stört kein Pathos des lyrisch Verinnerlichten das genuine Gefühl eines Liebenden, der immer auch Freund und Helfer seines Konkurrenten um die Gunst der Elisabeth sein will.

Dazu zeichnen Kostümbildnerin Cornelia Kraske und der Regisseur seinen Wolfram als ernstzunehmenden potentiellen Partner der Elisabeth. Seine Liebe ist edel und echt zugleich: Als einziger der die Liebe besingenden Meistersinger von der Wartburg trägt er zum schwarzen Anzug rote Schuhe. Sein Gefühl ist ganzheitlicher als gedacht, es ist seelisch und sinnlich. So wird der Wolfram zur interessantesten Figur des Stücks, eben kein warmduschender Liebeslyriker, sondern ein ganzer Mann.

Mit ihrem fein flutenden, üppig blühenden jugendlich dramatischen Sopran ist Leah Gordon eine ideale Elisabeth, die sich am Ende mit ihrem weiblichen Gegenpol Venus verschwestert – und damit Tannhäuser seine Erlösung in einem Akt weiblicher Emanzipation verweigert: Elisabeth und Venus (Anne Schuldt) gehen in diesem feministischen Finale Hand in Hand von der Bühne ab, nachdem Wolfram seinen Freund Tannhäuser im Affekt von seinem falschen Leben befreit und dann sich selbst das Leben genommen hat. Wagners Männer haben so sehr abgewirtschaftet wie die auf äußeren Werten fußende Wartburg-Society. Dieser Schluss gehört dem weiblichen Prinzip, was das Regieteam sogar mit viel Humor und Leichtgängigkeit zu zeigen weiß. Selten war Wagner so unterhaltsam.

Szenenbild aus Wagners „Tannhäuser“ bei den Opernfestspielen Heidenheim
Tannhäuser von Richerad Wagner bei den Opernfestpielen Heidenheim 2022

Marcus Bosch beweist: Wagner schöpft aus der Leichtigkeit der Spieloper

Dieses Konzept geht indes auch direkt von Marcus Bosch aus, der sich seinerseits von den Klischees dessen befreit, was ein (allzu) deutsches Musikdrama wohl zu sein hat. Er zelebriert nicht den Zukunftsmusiker Richard Wagner, vielmehr zeigt Bosch, woher Wagner seine Inspiration bezog und aus welchen Wurzeln er sein Werk entwickelte. Im fein transparenten Spaltklang der Stuttgarter Philharmoniker ist das zunächst die luzide Instrumentationskunst eines Felix Mendelssohn, den Wagner darum beneidete und dafür übel verunglimpfte.

Es ist die im „Tannhäuser“ durchscheinende Frühromantik eines Carl Maria von Weber, und es ist die Helligkeit der Spieloper eines Albert Lortzing, die bei den flotten, am Sprachfluss orientierten Tempi etwa im Finale des 1. Aufzugs unmittelbar aufscheint. Die Wahl der frühen Dresdner Fassung ist für dieses Wagner-Bild die ideale Wahl, da hier eben noch nicht die später eingefügte „Tristan“-Chromatik der Pariser Fassung das Konzept verunklart. Marcus Bosch‘ Sicht auf das Werk bringt eine ganz neue Klarheit ins Wagnerdunkel: Und der Abendstern (die Venus!) strahlt an diesem herrlichen Sommerabend von Heidenheim weit bis nach Bayreuth.

Opernfestspiele Heidenheim
Wagner: Tannhäuser

Marcus Bosch (Leitung), Georg Schmidtleitner (Regie), Stefan Brandtmayr (Bühne), Cornelia Kraske (Kostüme), Hartmut Litzinger (Licht), Stephan Knies (Dramaturgie), James Kee, Leah Gordon, Anne Schuldt, Beniamin Pop, Birger Radde, Martin Maringer, Stefan Stoll, Christian Stur, Gerrit Illenberger, Heide Baumgartner, Augsburger Domsingknaben, Tschechischer Philharmonischer Chor Brünn, Stuttgarter Philharmoniker

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