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Ballett-Kritik: Grand Théâtre de Genève – Ihsane

Vom Verflüssigen des starr Getrennten

(Genf, 13.11.2024) Der flämisch-marokkanische Meisterchoreograf Sidi Larbi Cherkaoui reflektiert in der Uraufführung von „Ihsane“ seine doppelte kulturelle Identität.

vonPeter Krause,

Wer des nachts nach der Oper durch das Zentrum von Genf schlendert, nimmt wie gewohnt die edlen Geschäfte, das Geld, die Grandezza der reichen Stadt in der Westschweiz wahr. Diese vollkommene Homogenität des Wohlstands. Doch es gibt inmitten all der Gediegenheit sehr wohl auch Obdachlose und Bettler auf den Straßen, was man hier nachgerade verblüfft wahrnimmt und im ersten Moment fast für eine Inszenierung halten mag. Doch die Stadt der Vereinten Nationen kennt so sehr, wenn auch weniger offensichtlich, die Widersprüche dieser Welt, wie Berlin, New York oder Nairobi sie auf den ersten Blick offenbaren. Am Grand Théâtre de Genève sollen diese Gegensätze in der Intendanz von Aviel Cahn nicht mehr im repräsentativen schönen Schein der hohen Kunst ausgeblendet werden. Er will zwischen Rive Gauche und Rive Droite Brücken bauen, sein Theater in die Vorstädte und ihre Hochhaussiedlungen hinein öffnen. Und sein Ballettchef tut es ihm gleich. Schließlich ist Sidi Larbi Cherkaoui schon in seiner Biografie ein doppeltes Wesen: Seine Mutter repräsentiert die flämischen Wurzeln, sein Vater, der einst von Marokko nach Flandern gezogen ist, die arabisch-muslimische Seite seiner Identität. Orient und Okzident, auch Nord und Süd, amalgamiert der Choreograf daher von jeher in seiner Arbeit des Vertanzens der Welt. Nun führt er in seiner Uraufführung von „Ihsane“ mit krasser Konsequenz zusammen, was derzeit weltpolitisch so gar nicht mehr zusammengehört.

Szenenbild aus „Ihsane“ am Grand Théâtre de Genève
Szenenbild aus „Ihsane“ am Grand Théâtre de Genève

Das Wagnis einer utopischen Setzung

Der Genfer Ballettdirektor bildet somit die Welt nicht ab, wie sie ist. Vielmehr zeigt er sie, wie sie sein könnte. Bereits Friedrich Schiller imaginierte in diesem Sinne „Alle Menschen werden Brüder“, John Lennon besang eine „Brotherhood of man“, und das dem Abend seinen Titel gebende arabische Wort „Ihsane“ zielt auf das Gütige, Freundliche, Zugewandte und Wohlwollende im Menschlichen. Sidi Larbi Cherkaoui wählt den Begriff bewusst als Name seiner neuesten Schöpfung. Und geht damit das Wagnis einer utopischen Setzung ein – mit all den Fallstricken des Gutmenschelnden und Gutgemeinten, womöglich auch Politisch Korrekten einer woken Gesellschaftsidee der Diversity, das zwar unter den Premierengästen die prompte allgemeine Zustimmung erfahren mag, aber nicht von vorne hinein die Dynamik und dramaturgische Schärfe eines spannungs- und kontrastgeladenen Tanztheaters mit sich bringt. Zum Glück ist der Choreograf klug und humorvoll genug sowie entsprechend gut beraten, um nahezu alle Fallstricke gleichsam in sein Konzept mit einzuweben – und damit unschädlich zu machen.

Szenenbild aus „Ihsane“ am Grand Théâtre de Genève
Szenenbild aus „Ihsane“ am Grand Théâtre de Genève

Wir lernen Singen auf Arabisch

Mit einigem Witz steigt er in den Abend ein. Da lehrt ein arabisch sprechender und singender Mann dem tanzenden Ensemble Aussprache und Intonation eines Liedes, dessen wiederum arabischen Text er zudem von rechts nach links auf eine Bühnenwand malt. Auch das Publikum wird in die Aufgabe einbezogen. Die didaktische Exposition will uns sagen: Wir sollen etwas lernen und dazu einfach mal selbst ausprobieren über die islamische Kultur, die derzeit dominant doch nur über ihre fundamentalistische Spielart für Schlagzeilen sorgt. Tanztheater als transkulturelles Projekt. Das Kollektiv der Tänzerinnen und Tänzer, das sich aus dem Ballett des Grand Théâtre sowie Mitgliedern seiner Kompanie Eastman zusammensetzt, scheint nun in gemeinsamen geometrischen Gesten die arabische Schrift in ihrer Ornamentik körperlich nachzuzeichnen. Die Musik steuert dazu Beschwörungsformeln von eindringlich berührender, oftmals meditativer Qualität bei. Jasser Haj Youssef hat sie geschrieben und für den Sänger Mohammed el Arabi-Serghini, die Sängerin Fadia Tomb El-Hage, Jasser Haj Youssef an der Viola d’amore, Gaël Cadoux am Klavier, Gabriele Miracle Bragantini am Schlagwerk sowie Yasamin Shahhosseini an der traditionellen Oud erdacht. Das authentische Klanggewand wird mitunter sanft elektronisch verfremdet (Sounddesign: Alexandre Dai Castaing), wie überhaupt der gesamte Abend dadurch besticht, dass nicht Klischees bedient werden, sondern durch Stilisierung überhöht und sanft verfremdet werden.

Szenenbild aus „Ihsane“ am Grand Théâtre de Genève
Szenenbild aus „Ihsane“ am Grand Théâtre de Genève

Munter mischen sich die Versatzstücke verschiedener Kulturen

Die Bühne von Amine Amharech, vor der zu Beginn die gemeinschaftlichen Gesangsübungen einsetzen, könnte zunächst den Eingang einer Moschee darstellen, doch es könnte sich hier auch einfach um das Eingangstor in eine andere Welt als jene der eigenen Komfortzone handeln. Dahinter angelangt erblicken wir Ornamente des Orients, Teppiche werden ausgerollt, die nicht zwingend dem Gebet dienen müssen, florale Muster erscheinen und werden später auch zu Accessoires der bunten Kostüme von Amine Bendriouich anverwandelt, die zwischen heutiger Alltagskleidung, Beigetönen der Berberkleidung und einem fantastischen Anderssein changieren. Munter mischen sich die Versatzstücke verschiedener Kulturen. Es ereignet sich eine Teezeremonie nordafrikanischer Provenienz, die Körper der beiden Compagnien einen sich im gemeinschaftlichen Kreisen ihrer Körper. Die Tanzstile mischen sich so unmerklich zwischen Archaik, Street Dance und klassischer Schule, dass man in den besten Momenten von „Ihsane“ vollends vergisst, dass hier ein Starchoreograph Tanztheater macht. Denn hier wird auf durchaus magische Weise Alles mit Allem verbunden, die Synthese der Stile entspricht vollkommen dem Zusammenklingen der Kulturen, der Welten, der Religionen.

Szenenbild aus „Ihsane“ am Grand Théâtre de Genève
Szenenbild aus „Ihsane“ am Grand Théâtre de Genève

Eine tänzerische Totenmesse mutiert zur Feier des Lebens

Denn Sidi Larbi Cherkaoui hat keine Scheu zusammenzudenken, was in weniger aufgeklärten Kreisen des Islam wohl einem Sakrileg gleichkommen würde. Da erblicken wir in den Videos von Maxime Guislain zunächst die scheinbare Idylle unschuldiger Lämmer. Einem in weiße Lammfelle gewandetem jungen Mann wird dann von hinten die Kehle aufgeschlitzt. Im offiziellen dramaturgischen Narrativ von „Ihsane“ ist das eine Anspielung auf einen 2012 im belgischen Liège ermordeten schwulen Mann marokkanischer Abstammung. Doch die Metapher verbindet den grausigen Einzelfall mit dem Schicksal des christlichen Gottessohns, der einst als Lamm Gottes für die Sünden dieser Welt büßen musste. Das Ritual von just zwölf Tänzerinnen und Tänzern, die einander Sand durch die Hände rieseln lassen, lässt zudem Jesu letztes Abendmahl assoziieren. Ein dezidiert gegenwärtiges Theater – nach dem Mord sind nun auch Tierkadaver in der Wüste auf den Videos zu sehen – mischt sich mit einem rituell-archaischen, in der eine Mutterfigur den Geschlachteten beweint. Eine Totenmesse mutiert zur Feier des Lebens in einer utopisch geeinten Welt.

Szenenbild aus „Ihsane“ am Grand Théâtre de Genève
Szenenbild aus „Ihsane“ am Grand Théâtre de Genève

Ernsthaftigkeit und Empathie

Sidi Larbi Cherkaoui versagt sich dazu eine politisch anklagende Haltung. Er will versöhnen, nicht spalten. Dazu dienen ihm die multiplen Mittel des Tanzes, die im letzten Drittel des Abends zunehmend westlich-klassischer werden. Da legen seine Tanzensembles dann die kulturell definierten Kostüme ab, stehen in schlichten Bodysuits auf der Bühne, neutralisieren gleichsam ihre Herkunft. Statt der orientalischen Ornamente ist die Bühne jetzt ganz abstrakt von einem weißen Tuch umhüllt. Ein heller Kubus – vielleicht eine Anspielung auf die Kabbala – senkt sich von oben in die Bühnenmitte. Die Tanzschritte werden zunehmend klassisch. Ganz kurz tanzt eine Dame auch mal Spitze. Dann folgt die große Annäherung der Gegensätze – nie anbiedernd, nie platt oder plakativ, sondern in großer Ernsthaftigkeit und Empathie, mit viel Behutsamkeit. Vielleicht vermag es ja nur der Tanz mit seiner Transzendierung aller körperlichen Schwere: das Verflüssigen des sonst so starr Getrennten.

Die koproduzierenden Institutionen können sich somit freuen, wenn sie nach der Genfer Uraufführung „Ihsane“ zu sich holen. Dazu zählen: Die Compagnie Eastman, das Pariser Théâtre du Châtelet, die Théâtres de la Ville de Luxembourg, Tanz Köln, da sInternationaal Theater Amsterdam, das Festspielhaus St. Pölten, das Grec Festival Barcelona 2025 sowie das Centre National des Arts Ottawa.

Grand Théâtre de Genève
Cherkaoui: Ihsane

Sidi Larbi Cherkaoui (Choreografie), Amine Amharech (Bühne), Amine Bendriouich (Kostüme), Jasser Haj Youssef (Komposition), Alexandre Dai Castaing (Klangdesign), Fabiana Piccioli (Licht), Maxime Guislain (Video), El Arbi El Harti El Qabisy (Dramaturgie), Mohammed el Arabi-Serghini (Sänger), Fadia Tomb El-Hage (Sängerin), Jasser Haj Youssef (Viola d’amore), Gaël Cadoux (Klavier), Gabriele Miracle Bragantini (Perkussion), Yasamin Shahhosseini (Oud), Ballett des Grand Théâtre in Zusammenarbeit mit Eastman

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