Eigentlich ist das Wortspiel „vielsaitig“ in Bezug auf Streicher ein alter Hut – doch bei wenigen Solisten ist das Attribut so zutreffend wie bei Anastasia Kobekina. Denn die junge Cellistin, Jahrgang 1994, spielt sowohl auf Stahl- wie auch auf Darmsaiten. „Ich hatte mich längere Zeit mit den Bach-Suiten für Solo-Cello beschäftigt, dabei aber nie meinen eigenen Bezug zu diesem Werk gefunden. Dann habe ich die wunderbare Barockcellistin Kristin von der Goltz kennengelernt, die mich inspiriert hat, dieses Instrument auszuprobieren“, erzählt Kobekina, die inzwischen bei von der Goltz an der Frankfurter Musikhochschule auch studiert.
„Das Barockcello fühlte sich für mich sofort sehr natürlich an. Darmsaiten schwingen ganz anders als Stahlsaiten, ihr Klang ist fragiler und intimer, man berührt sie auch anders mit dem Bogen als Stahlsaiten. Bei der Interpretation von Barockmusik spiele ich freier, das ist etwas Anderes, als wenn ich ein Stück wie das Dvořák-Konzert lerne, wo es so viele Vorbilder gibt, dass ich genau weiß, wie es klingen soll.“ Letzteres Konzert spielt sie natürlich nach wie vor auf Stahlsaiten, doch auf ihrer jüngsten CD „Ellipses“ kann man beispielsweise bei der Komposition „La Follia pour violoncelle solo“ des Franzosen Thierry Eschaich hören, wie faszinierend zeitgenössische Musik auf Darmsaiten und Cembalo klingt.
Einflüsse aus musikalischer Umgebung
Kobekinas Repertoire ist breit gefächert, reicht von Barockkomponisten wie Willem de Fesch über Claude Debussy bis hin zu Werken ihres Vaters Wladimir Kobekin, mit dem sie 2018 auch eine gemeinsame CD aufnahm. „Ich bin in einer sehr musikalischen Umgebung aufgewachsen, meine Mutter ist Pianistin und mein Vater Komponist. Es gab bei uns oft Hauskonzerte und gemeinsam mit meiner Mutter habe ich an sehr vielen Wettbewerben in Russland teilgenommen.“ Geboren in Jekaterinenburg, studierte Kobekina zunächst am Moskauer Konservatorium, bevor sie nach Europa aufbrach.
„Mit sechzehn habe ich an der Kronberg Academy zum ersten Mal an einem Meisterkurs teilgenommen, was sehr faszinierend war. Da kamen 120 Cellisten aus der ganzen Welt in diese kleine Stadt, und ich bekam so viele Eindrücke von Neuem, von anderer Spiel- und Klangkultur. Das hat mich neugierig gemacht auf andere Herangehensweisen, andere Professoren.“ Während sie in Kronberg, Berlin und Paris unterrichtet wurde, nahm ihre Bühnen-Karriere konkrete Formen an, nicht zuletzt beflügelt durch eine Bronze-Medaille beim Tschaikowsky-Wettbewerb in St. Petersburg 2019. Kammermusikalisch konzertierte sie unter anderem mit Gidon Kremer und Fazıl Say, solistisch mit Orchestern wie dem BBC Philharmonic und dem Berliner Konzerthausorchester.
In Europa zu Hause
Seit 2012 lebt Kobekina in Deutschland, ist mit ihren Eltern in Moskau aber auch in den zuletzt schwierigen Zeiten im regen Austausch. „Wir telefonieren häufig, mein Vater unterstützt mich auch weiterhin musikalisch. Gerade hat er eine Fantasie geschrieben, die auf russischen, ukrainischen, französischen und englischen Volksliedern basiert.“ Europa nennt sie inzwischen ihr Zuhause, ihre Freunde in Deutschland eine „zweite Familie. Ich bin als junger Mensch hier angekommen, also in den Lebensjahren, in denen dein Weltbild wesentlich geprägt wird. Ich fühle mich deshalb auch den europäischen Werten sehr verbunden“, erklärt Kobekina.
Um so mehr verwunderte es, als im März 2022 ein Schweizer Veranstalter ein Konzert der gebürtigen Russin kurzfristig absagte, mit Verweis auf ihre Herkunft. „Ich glaube nicht, dass so ein pauschaler Ausschluss von Musikern nach Nationalitäten mit den europäischen Werten wirklich vereinbar ist“, gibt Kobekina zu Bedenken – und verrät, dass die Schweizer Kontroverse, die vor allem in sozialen Medien für einige Aufregung sorgte, inzwischen ein Happy End gefunden hat: Die Kartause Ittingen hat Kobekina bereits wieder eingeladen.