Einen „Kauz am Klavier“ nannte ihn der Tagespiegel, einen „Philosophen, Schalk und Charmeur“ die Zeit. Ein Künstler mit Chuzpe möchte man hinzufügen, denn Anatol Ugorski hat nie in ein Raster gepasst. Über Nacht war der russische Pianist Anfang der neunziger Jahre in Deutschland berühmt geworden. Eine rasante Karriere ohnegleichen: Von der Flüchtlingsunterkunft in Berlin auf die Bühnen der Welt.
Alles begann 1968, als der aufstrebende Pianist in seiner Heimat Leningrad in einem Konzert mit Werken von Pierre Boulez laut und demonstrativ applaudierte. Sofort musste er sich vor einem Komitee rechtfertigen. Zehn lange Jahre darf er von nun an nur vor Schulklassen in der sowjetischen Provinz auftreten, muss mit „dressierten Hunden und ganz schrecklichen Sängern mit ganz verderblichen Liedern“ arbeiten. Weil westliche Komponisten in der damaligen Sowjetunion nicht erwünscht und deren Notenmaterialien schwer zugänglich sind, führt er Werke von Sergej Slominski, Galina Ustwolskaja, Edisson Denissow, Sofia Gubaidulina oder Witold Lutosławski auf, schreibt aber auch mal Werke von Schütz Note für Note ab. Seine meist nicht öffentlich plakatierten Konzerte werden dennoch zum Geheimtipp. Später wird er über diese Zeit sagen: „Ich konnte mich auf meinem Weg festigen, hatte Zeit, stand noch nicht im gleißenden, oft grausamen Rampenlicht.“
Flüchtete nach Ostberlin: Anatol Ugorski
Irgendwann erkennt auch die staatliche Obrigkeit, dass sie mit Ugorski einen begabten Mann hat, und ernennt ihn 1982 zum Professor in Leningrad. Bald droht Gefahr von anderer Seite. Der seit Jahrhunderten tief in der sowjetischen Gesellschaft verankerte Antisemitismus trifft auch Familie Ugorski. Als im Frühjahr 1990 seine damals sechzehnjährige Tochter – die heutige Pianistin Dina Ugorskaja – massiv von der radikalen nationalistischen und antisemitischen Pamjat-Bewegung bedroht wird, beschließen sie, nach Ostberlin zu fliehen. Fast zwei Jahre werden sie in einer Flüchtlingsunterkunft leben, bis die in Berlin ansässige amerikanische Schriftstellerin Irene Dische den Pianisten unter ihre Fittiche nimmt und die Deutsche Grammophon auf ihn aufmerksam macht. „Kann es wirklich sein“, fragte sich 1992 Joachim Kaiser im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung, „dass ein 49-jähriger Pianist unter uns lebt, der fast die Glut des jungen Serkin besitzt, fast die Technik von Pogorelich, beinahe die Phrasier-Intelligenz von Afanassiev – und den gleichwohl, abgesehen von ein paar Insidern, Eingeweihten, kaum ein Beobachter der Klavierszene kennt?
Umfangreiche Edition bei der Deutschen Grammophon
Die Deutsche Grammophon veröffentlichte kürzlich eine 13 CDs umfassende Edition mit Werken von Beethoven, Schumann, Schubert, Chopin, Brahms, Mussorgski – und dem Skrjabin-Konzert, das Ugorski mit dem einst bewunderten Pierre Boulez einspielte. Von besonderer Bedeutung ist auch die Aufnahme des „Catalogue d’oiseaux“ von Olivier Messiaen, für die Ugorski 1995 den ECHO Klassik erhielt. „Im Konzert gelingt es mir manchmal, in eine Trance zu geraten“, sagt er. „Das sind die glücklichsten Momente. Da habe ich das Gefühl, das Klavier ist mir hörig. Alles, was während der Probe unerreichbar war, gelingt. Wer nur die Töne hört, für den ist die Musik ein wenig verloren.“
Sehen Sie hier den Trailer zu der umfassenden Anatol Ugorski Edition der Deutschen Grammophon: