Alte Musik ist alt – und ganz neu, wenn man an ihren Ursprung zurückkehrt: zurück in die Zeit, in der sie geschrieben wurde, dorthin, wo der Urheber gewirkt hat. Andrea Marcon unternimmt gerne Zeitreisen. Seit über vierzig Jahren wird seine akribische Suche belohnt. Fündig wurde er zum Beispiel in der Turiner Nationalbibliothek, einer Fundgrube für die Werke Vivaldis. Oder in Venedig, wo die Biblioteca Nazionale Marciana seine „erste Anlaufstelle“ war – „ein Muss, dort zu stöbern und fündig zu werden“. Dort konnte der in Treviso geborene Dirigent, Cembalist und Organist die Opern von Francesco Cavalli oder Sonaten von Domenico Scarlatti im Original oder in Abschriften einsehen. Als er an der Schola Cantorum in Basel studierte, unter anderem bei Jean-Claude Zehnder und Jordi Savall, besuchte er regelmäßig die Universitätsbibliothek. Der riesige Bestand an Mikrofilmen sei ein Grund gewesen, sein geliebtes Italien zu verlassen. „Wenn ich auf diese Zeit zurückblicke, kommt es mir vor, als sei das vor hundert Jahren passiert. Der Informationsträger Microfiche gehört heute selbst zum Antiquariat.“ Und weil die Gegenwart mit ihren neuen Tools immer schneller wird, ist Marcon heute auf den digitalen Wegen und Straßen unterwegs, wenn er auf Zeitreise ist.
Faksimile-Ausgaben muss er nicht mehr physisch auf Papier erwerben, er bestellt sie einfach online. „Briefe schreiben, unendlich lange auf Antworten warten, die Kopien bestellen, wieder warten: Das entfällt heute. Vieles steht bereits im Web, ständig wird der digitale Bestand erweitert.“ Die Arbeit mit den Dokumenten aus unterschiedlichsten Quellen birgt ungewöhnliche Freiheiten jenseits andächtiger Lesesaalruhe und begrenzter Öffnungszeiten: „Online kann man die Partituren fast noch besser studieren, ganz gemütlich zu Hause bei einer Tasse Kaffee oder Tee. Am Bildschirm kann ich viel schneller vergleichbare Werke heranziehen und nebeneinanderlegen. Auf der anderen Seite sind die Emotionen beim Betrachten einer originalen Handschrift, die direkt vor einem liegt, ganz andere.“
Ein Wort für alles
Seit 2009 ist Andrea Marcon künstlerischer Leiter des La Cetra Barockorchester Basel. Die große Vertrautheit und Nähe gibt ihm die Möglichkeit, die Ergebnisse seiner Spurensuche nuanciert und informiert in Klang zu formen. „Wenn man so lange zusammen musiziert, vergisst man den Stress und kann intensiver und produktiver arbeiten. Man geht auch mit einer gewissen Gelassenheit an die neuen Aufgaben.“ Als Cembalist, der die Aufführungen vom Instrument aus dirigiert, stellt er die Nähe auch durch die gemeinsame Arbeit im Notenmaterial her. „Das Orchester kann mithilfe der Originalpartitur schnell nachvollziehen, was ich an bestimmten Stellen von ihm will, zum Beispiel in Bezug auf Phrasierungen.“ Noch arbeiten er und das Orchester mit gedrucktem Material. Aber die Zukunft steht schon vor der Tür. Er hat sie bereits erlebt, als er in Madrid das Orquesta Sinfónica dirigierte. Tatsächlich spielten die Musiker nicht vom Blatt, sondern vom Tablet. „Vor den Proben hatte ich dem Orchester Scans der Partituren mit meinen persönlichen Anmerkungen geschickt. Und was haben sie gemacht? Sie haben alle meine Notizen in ein neues digitales Format überführt und damit vom iPad gespielt. Das ist doch sensationell!“
Marcons Begeisterungsfähigkeit ist ansteckend. Und die Leichtigkeit, mit der er jede Hürde nimmt, scheint dem Italiener angeboren zu sein. Danach gefragt, welche Fertigkeiten für einen Cembalisten wohl die wichtigsten seien, fasst er gemäß Carl Philipp Emanuel Bachs „Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen“ zusammen: Reinheit, Leichtigkeit, Geschmack und gute Gebärden. Marcon erklärt, dass sie alle auf ihre Weise relevant seinen. Aber Leichtigkeit sei definitiv das Wichtigste – denn sie entspräche der Gelassenheit. „Ganz schwierige Sachen ganz einfach werden zu lassen: Das ist es, was wir anstreben. Wir Italiener haben auch ein Wort dafür: sprezzatura. Man braucht nicht vier Worte, sondern nur dieses eine.“ So einfach ist das.