29Wenn er das Podium betritt, treten viele andere ab. Arcadi Volodos verfügt über die seltene Gabe, seine Kollegen vergessen zu machen, solange er spielt. Es ist nicht seine Körperfülle, die andere Pianisten von der Bildfläche verdrängt, sondern natürlich sein Spiel, seine Präsenz, die Magie seines Anschlags. Er selbst verwendet dafür lieber die Wörter „Farbe“ und „Poesie“ – sagen lässt sich sowieso nicht, was große Pianisten von bloßen Klavierspielern unterscheidet. Der Unterschied aber fällt trotzdem ins Ohr. Beim ersten Ton.
Virtuose Erinnerung an Vladimir Horowitz
Nur zu Beginn seiner Karriere wurde nach Vorbildern und Einflüssen gefahndet. Volodos musste einige Jahre gegen das Etikett „Zweiter Horowitz“ anspielen, denn dieser Vergleich drängte sich Kritikern auf, kaum dass der junge Mann aus Leningrad im Westen eingetroffen war. Den Anlass dazu hatte Volodos selbst gegeben, weil er die wahnwitzig virtuosen Horowitz-Zugaben nach Tondokumenten rekonstruierte und spielte – ohne die üblichen Fehlgriffe des Meisters. Seine erste Platte, „Piano-Transkriptionen“ von 1997, machte Sensation. Die exzessive Darbietung unspielbar schwerer Stücke weckte nicht nur Erinnerungen an Horowitz, sondern auch den Verdacht, hier habe man es mit Zirkusnummern zu tun. Volodos sieht sich noch heute gezwungen, immer wieder die grassierenden Vorurteile über Virtuosität zu widerlegen, spielerisch und argumentativ: dass es dabei nicht um physische Kraft und sportliche Rekorde gehe, dass Virtuosität kein leeres Glitzern an der Oberfläche bedeute, sondern eine poetische Form der Improvisation darstelle. „Ein Virtuose spielt mit größtmöglicher Einfachheit“, sagt Volodos, „so dass man alle technischen Schwierigkeiten darüber vergisst.“ Mit Vorliebe wendet er sich gegen die gängige Missachtung der Ungarischen Rhapsodien Liszts, und es trifft den depressiven Schubertianer mitten ins Herz, wenn Volodos ausgerechnet diesen Rhapsodien attestiert, sie seien „folkloristische Musik voller Nostalgie und voller Tragik.“ An Schubert hat er sich mittlerweile auch versucht, mit eher zweifelhaftem Erfolg. Großartig hingegen sind seine Brahms-Interpretationen. Wer ihn je mit den späten Intermezzi erlebte, wird norddeutsch vernebelte Deutungen nicht mehr in den CD-Player schieben.
Gelebte russische Schule
Volodos‘ Domäne jedoch ist und bleibt das slawische Repertoire, dessen Bandbreite gemeinhin unterschätzt wird. Tschaikowsky, Liszt, Rachmaninow und Skrjabin heißen seine Favoriten, und es war ebenso naheliegend wie treffend, dass hier seine „arkadische Schwerelosigkeit“ gerühmt wurde und selbstverständlich seine Grandezza. Der 40-jährige Arcadi Volodos steht, viel mehr als sein gleichaltriger Landsmann Kissin, für jene russische Klavierschule, die den goldenen Schnitt zwischen Brillanz und Tiefsinn lehrt, oder besser: die das pianistisch Spektakuläre und scheinbar Virtuos-Äußerliche in die Region subtiler Schönheit entrückt – ungefähr so, wie ein vollendet schöner Leib die Seele verbirgt und gleichzeitig enthüllt.
Ein irrlichternder strahlender Komet
Über Volodos, diesen geheimnisvollen romantischen Künstler, sind zahlreiche Legenden in Umlauf. Er hat sie teils persönlich genährt, teils vehement bekämpft. Einige dieser Legenden dürfen inzwischen als wahr gelten: der Sohn eines Sängerpaares hasst den Gesang tatsächlich und wollte, entgegen anders lautender Meldungen, niemals Sänger werden, sondern eben Pianist, dies allerdings erst ab seinem 16. Lebensjahr. An einem Klavierwettbewerb hat er nie teilgenommen. Auch übte er stets wenig, bewohnte in Paris zeitweilig ein derart kleines Apartment, dass kein Flügel hineinpasste. Manchmal meidet er sein Instrument drei Monate am Stück. Noch entschiedener meidet er Aufnahmestudios, und am stärksten ist seine Abneigung gegenüber dem nivellierenden amerikanischen Musikmarkt, gegenüber den Supermarkt-Gesetzen des Showbusiness. Aber Russland besucht er genauso selten, es war ihm seit je zu kalt und ist ihm immer fremder geworden.
So irrlichtert Volodos durch Europa, schwer fassbar, vorzugsweise nachts lebend, ein seltsamer Komet, den man nicht ungestraft versäumt, wenn er hier oder da an einem Konzertsaalhimmel erscheint. Denn Volodos gehört mit Argerich, Pogorelich, Kissin und vielleicht noch Berezowski zu jener Handvoll überragender Virtuosen, in deren Kosmos vorzudringen nur den glücklichsten Zeitgenossen vergönnt ist.