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Porträt Asmik Grigorian

Sechzig Rollen, tausend dumme Gesichter

Nur schön zu sein wäre ja einfach: Asmik Grigorian scheut auf der Bühne auch nicht das Hässliche. Die Opernwelt liebt sie dafür.

vonTeresa Pieschacón Raphael,

Klare Worte, glasklarer Blick und der Mut, in der Öffentlichkeit Grimassen zu ziehen: Die litauische Opernsängerin Asmik Grigorian scheint nicht der Typ Künstlerin zu sein, der auf die Opernbühne tritt, um nur „schön“ zu leiden und noch zu schöner sterben. Tough wirkt sie, zumindest auf dem ersten Blick. Bereits im Mutterleib hat sie sich darin „geübt“, wie sie gerne in Interviews erzählt. Denn ihre Mutter, die litauische Koloratursopranistin Irena Milkevičiūtė, stand sogar während der Schwangerschaft auf der Bühne. Disziplin und das Wissen, dass sie ihrer Intuition trauen kann, gab sie ihrer Tochter mit. Ihr bereits 2016 verstorbener Vater, der armenische Tenor Gegam Grigorian, allerdings lehrte sie, dass auch das wahre Leben nicht zu kurz kommen dürfe: „Du musst auf der Bühne gut sein, Asmik, aber das Wichtigste sind Familie, Freunde, das Leben, die Sonne.“

Sie hielt sich an den Rat der Eltern, studierte Klavier und Chordirigieren am Nationalen M. K. Čiurlionis Kunstgymnasium in Vilnius und schloss 2006 an der Litauischen Akademie ein Gesangsstudium mit dem Master ab. Sie sei keine gute Schülerin gewesen, räumt sie ein, und erteilt der im Westen vielgelobten osteuropäischen Musikausbildung eine herbe Absage. Sie übe auf junge Leute viel zu viel Druck aus: „Meine ganze Ausbildung lang hat man mir gesagt, dass ich ein Nichts bin, dass ich dieses und jenes nicht könne und dass ich es nie zu etwas bringen werde“, sagte sie 2020 in einem Interview für den Standard. „Darin liegen die Gründe dafür, dass ich nie mit mir zufrieden bin“. In der Konsequenz aber hieß das auch: Arbeit und nichts als Arbeit.

Das Selbstvertrauen wächst mit jeder Rolle

2004 gab sie im georgischen Batumi ihr Bühnendebüt als Desdemona in Verdis „Otello“ und debütierte 2005 an der Oper Vilnius als Violetta in Verdis „Traviata“. An der Lettischen Nationaloper sang sie Mozarts Donna Elvira und glänzte beim Opernfestival Riga 2010 in allen drei Hauptrollen (Giorgetta, Suor Angelica und Lauretta) in Puccinis „Il trittico“. 2015 reüssierte sie an der Oper Vilnius mit Puccinis „Manon Lescaut“ und als Leonora in Verdis „Il Trovatore“.

Mit jeder Rolle wuchs ihr Selbstvertrauen, aber auch die Erkenntnis, dass ebenso der ökonomische Umgang mit den Kräften gelernt sein will. Wie viele junge Sänger sei sie zunächst jede Partie im Überschwang der „Gefühle“ angegangen, ohne „so richtig“ auf Technik zu achten. Das habe ihr nicht nur den Spitznamen „Prinzessin der Gefühle“ eingebracht, sondern sie auch in schwierige Situationen gebracht. Eine solide Technik, das weiß sie heute, schützt sie davor, sich stimmlich zu verausgaben und zu riskieren, dass die Laufbahn ein jähes Ende nimmt.

Mit Hingabe in den Abgrund

Das trifft vor allen Dingen auf Partien wie Strauss’ Salome zu, mit der sie 2018 bei den Salzburger Festspielen ihren Durchbruch feierte – mit androgynem Bob und ohne Schleiertanz übrigens. Zum ersten Mal hatte sie den Eindruck, dass sie „zu hundert Prozent die Fäden in der Hand“ hielt und gleichzeitig „zu hundert Prozent“ in der Rolle aufging. Mit Hingabe wagte sie sich in den Abgrund dieser triebhaften, perversen, hysterischen und in jedem Falle fatalen Frauenfigur herab, die für sie auch eine femme fragile ist. Denn sie glaube einfach nicht an die reine Bosheit. „Ich versuche auch immer eine Erklärung für bestimmte Verhaltensweisen zu finden“.

Um den deutschen Text sauber zu artikulieren, engagierte sie einen Sprach-Coach. „Tausend dumme Gesichter“ könne sie nun ziehen und den Kiefer in jede Richtung verrenken, wie sie demonstrativ auf einem Video zeigt. „Meine Muttersprache sitzt von Natur aus ganz weit hinten im Rachen. Die deutsche Sprache aber sitzt ganz vorne“, lacht sie. Über sechzig Rollen hat die Sopranistin mittlerweile im Repertoire, darunter die fragile Marie in Alban Bergs „Wozzeck“ und Kämpferinnen wie Chrysothemis aus Strauss’ „Elektra“. Den wahren Kampf aber ficht sie mit sich selbst aus, wie sie unlängst in einem Interview bekannte. Panikattacken. „Das ist ein täglicher Kampf, ein großer Krieg in mir“. Es werde nicht leichter, oft spüre sie ihren Körper „gar nicht“. Vor einiger Zeit postete sie auf Instagram ein Video, auf dem sie einfach in einen zugefrorenen See springt. Auch eine Therapie.

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