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Porträt Baltic Sea Philharmonic

Die Zukunft des Orchesters

Das Baltic Sea Philharmonic geht mit seinem Chefdirigenten neue Wege.

vonSusanne Bánhidai,

Freiheit. Dieses Wort hört man häufig, wenn man mit Kristjan Järvi und den Mitgliedern des Baltic Sea Philharmonic spricht. Das Wort ist mehr als als eine Verheißung. Es ist ein ein ge- und erlebtes Ideal. Das Ideal der offenen Grenzen: künstlerisch, geografisch und menschlich. Seit über zehn Jahren nun finden sich im Baltic Sea Philharmonic Musiker aus den zehn Anrainerstaaten der Ostsee (englisch: Baltic Sea) zusammen. Russland, Estland, Lettland, Litauen, Polen, Deutschland, Dänemark, Norwegen, Finnland und Schweden. Eine Region, die politisch lange Zeit geteilt war, kommt in diesem Orchester zusammen. Dafür wurde es 2015 mit dem Europäischen Kulturpreis ausgezeichnet. Die Idee für das Ensemble entstand 2008 beim Usedomer Musikfestival, das als geistige Heimat des Orchesters gilt.

Jedes Jahr finden dort Konzerte im Kraftwerk Peenemünde statt, das wie geschaffen zu sein scheint für die Vision seines Chefdirigenten. Järvi, jüngster Spross der Dirigentenfamilie mit Vater Neeme und Bruder Paavo, ist ein vielfältig arbeitender Künstler. Er nimmt sich als Dirigent, Produzent, Komponist und Arrangeur die Freiheit, sich auf nichts festlegen zu lassen. Vom Dirigat großer Orchester bis zu Projekten mit der britischen Band Radiohead blickt er auf eine bunte Erfolgsgeschichte zurück. Aufgewachsen ist er in New York, denn dorthin wanderte die estnische Familie Järvi aus. Seit einiger Zeit ist sein Lebensmittelpunkt wieder die Hauptstadt Tallinn – so ist die geliebte Ostsee näher.

Das Baltic Youth Philharmonic, wie es zunächst hieß, ist aus den Kinderschuhen eines Jugendorchester herausgewachsen. Dennoch sind die meisten Mitglieder zwischen zwanzig und dreißig Jahre alt. Über 500 Musiker finden projektweise für CD-Aufnahmen und Touren zusammen. Früh ließ sich die Gruppe von prominenten Gastdirigenten wie Kurt Masur führen und arbeitete mit namhaften Solisten wie Mari Samuelsen oder Gidon Kremer zusammen. Seit 2016 hat es als Baltic Sea Philharmonic seinen eigenen Stil entwickelt. Die Konzerte in der Berliner Philharmonie, der Elbphilharmonie oder im St. Petersburger Mariinski-Theater sind Spektakel aus Projektionskunst, Klangkunst und Choreografie. Ein Orchester von heute darf sich eben auch bewegen. Die Mitglieder haben sich auf die Fahnen geschrieben, die Aufführung von Musik im 21. Jahrhundert zu revolutionieren. Stehend und ohne Noten spielend verquicken sie Werke von Komponisten aus den zehn Ostseeländern zu einer Klangperformance und interpretieren Musik jedweder Couleur.

Kristjan Järvi dirigiert das Baltic Sea Philharmonic beim Usedomer Musikfestival 2020
Kristjan Järvi dirigiert das Baltic Sea Philharmonic beim Usedomer Musikfestival 2020

Improvisation als Markenzeichen

Das Auswendigspielen wurde zum Markenzeichen des Orchesters, ebenso wie improvisierende Einschübe in das klassische Repertoire. Auch die Beziehung zur Musik selbst verändere sich so. Jedenfalls empfindet das die deutsche Oboistin Annika Oser und schwärmt vom hohen Niveau der Proben. „Improvisation ist eine Sache der Erfahrung. Wenn man das System kennt, ist man nach einer Weile extrem frei im Spielen,“ sagt auch Kontrabassistin Miranda Ehrlich, die über Social Media-Kanäle vom Probespiel erfahren hat. Sie betont, dass ein neuer Kontakt zu ihren Kollegen entsteht, wenn alle auswendig spielen und dadurch auch das Verhältnis zum Dirigenten intensiver wird. „Wir sind uns näher ohne Pult, die Barriere ist weg. Wir sind eine Band, würde Kristjan sagen.“

Kristjan Järvi agiert beim Baltic Sea Philharmonic nicht nur als Künstlerischer Leiter. Die jungen Menschen haben ihn zum Mentor ihrer beruflichen Entwicklung gemacht. Alexey Mikhaylenko, Klarinettist aus Russland, studiert neuerdings Dirigieren in Wien. „Kein Hauch von autoritärem Gebaren geht von Kristjan aus. Bei vielen Orchestern hört man den Druck, der von vorne kommt. Bei uns hört man die Freiheit, aber keine Anarchie. Alle vertrauen dem Chef und alle übernehmen Verantwortung.“ Gemeinsam sind Dirigent und Orchester auf der Suche nach dem schmalen Grat zwischen Chaos und Ordnung. So wirkt denn auch das Baltic Sea Philharmonic mit den bunten Kleidern auf der Bühne wie eine Einheit, in der viel Individualität möglich ist. Alexey ist sich sicher: „Das ist die Zukunft des Orchesters.“

Hören Sie hier den Walzer aus Tschaikowsky Dornröschen-Ballett aus dem neuen Album „Dornröschen op.66 A Dramatic Symphony“:

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Album-Tipp:

Album Cover für Tschaikowsky: Dornröschen op.66 "A Dramatic Symphony"

Tschaikowsky: Dornröschen op.66 „A Dramatic Symphony“

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