Es war Karfreitag 2020, als die Karriere von Benedikt Kristjánsson einen einzigartigen Höhepunkt erlebte. In der leeren Leipziger Thomaskirche, wo der Tradition nach an diesem Tag Thomanerchor und Orchester musiziert hätten, stand nun ein dreiköpfiges Ensemble und auf dem Programm Bachs „Johannes-Passion“. Kristjánsson interpretierte sämtliche Arien, Rezitative und Chöre, begleitet von Schlagzeuger Philipp Lamprecht am Vibrafon sowie Elina Albach an Cembalo und Orgel, während die Choräle als Video zugespielt wurden. Die Passions-Aufführung in dieser reduzierten Form war bereits 2019 nach der Idee des Cellisten und Kulturmanagers Steven Walter entstanden. Nun passte sie genau in die Zeit und wurde, live im Fernsehen übertragen, zum musikalischen Symbol der Lockdown-Zeit, als Auftritte großer Ensembles undenkbar waren. „Es war eine wirklich verrückte Situation und ich war enorm aufgeregt“, erzählt Kristjánsson im Interview. „2012 hatte ich am Bach-Wettbewerb teilgenommen, war aber leider nicht ins Finale gekommen und sehr traurig, dass ich am Ende nicht die Bach-Kantate in der Thomaskirche singen durfte. Und jetzt bekam ich diese Möglichkeit in einem Moment, als die Welt auf dem Kopf stand.“
In Bach verliebt ist Kristjánsson seit seiner Kindheit. Die Mutter war in Island Sängerin und Chorleiterin, der Vater Theologe, „daher war geistliche Musik bei uns im Haus sehr präsent. Und ich kann mich noch ganz genau an den Moment erinnern, als ich das erste Mal Bach hörte: Die Harmonien, die Stimmführung – ich dachte: Wow, das klingt anders.“ Er entdeckte die „Matthäus-Passion“ im Plattenregal der Eltern, studierte sie mitsamt Noten und war sich sicher, „dass ich das eines Tages selbst singen würde.“ Gesang studiert hat Kristjánsson zunächst in Reykjavík, später an der Berliner Hochschule für Musik bei Scot Weir. Und aus seinem wichtigsten Evangelisten-Vorbild macht er keinen Hehl. „Auf dem Weg zur Hochschule habe ich auf meinen Kopfhörern jeden Tag Peter Schreier gehört. Er hat diesem Solisten-Part ein neues Niveau gegeben, das Erzählen mit Tönen, ohne Überzeichnung, der normale Sprachfluss. Und wenn es die Partie erfordert, hatte er auch den Mut, hässlich zu singen. Meine erste ,Johannes-Passion‘ habe ich mit 23 Jahren in Reykjavík gesungen, damals war ich noch gar nicht reif dafür, also habe ich sehr intensiv studiert, wie Schreier die Partie gestaltet hat, das hat mir geholfen.“
Möchte lieber Fragen aufwerfen statt nur Antworten zu geben: Benedikt Kristjánsson
Mittlerweile gehört Kristjánsson selbst zu den gefragtesten Tenören im Oratorien- und Liedbereich. Und das nicht zuletzt, weil er immer wieder auch mit ungewöhnlichen Ideen in Erscheinung tritt. So verknüpft er zum Beispiel in einem Ein-Mann-Musiktheater Texte aus dem Roman „Judas“ von Amos Oz mit Bach-Arien und Rezitativen und lädt so zu einer neuen Perspektive auf die biblische Figur ein. Aufsehen erregte seine „Winterreise perpetuum“ beim Bonner Beethovenfest 2022, wo Kristjánsson in einem leergepumpten Schwimmbad den Schubertschen Liederzyklus immer wieder von vorn begann, rekordverdächtige 24 Stunden lang. „Diese Idee kam mir, weil die ,Winterreise‘ keine abgeschlossene Handlung hat, sie endet mit einem Fragezeichen, der Erzähler ist verwirrt in seinen Gedanken, seine Wanderung nimmt kein Ende, es gibt keine Erlösung.“
Er möchte dem Zuschauer gerne Dinge anbieten, die Fragen aufwerfen, statt nur Antworten zu geben. Zudem suche er die Abwechslung, sagt Kristjánsson: „In diesem Beruf besteht immer die Gefahr der Routine, dass man zur Probe kommt, auf ‚Autopilot‘ drückt und nichts Neues passiert.“ Bei aller Experimentierfreude ziehe er aber auch klare Grenzen bei seinen Arrangements: „An der Harmonik und am Text darf man nichts verändern, der respektvolle Umgang mit dem Material ist das Entscheidende.“ Und dann gesteht Benedikt Kristjánsson überraschend: „Wenn ich mir die ,Johannes-Passion‘ zuhause anhöre, wenn ich das Werk genießen möchte, würde ich nicht unsere reduzierte Fassung hören, sondern immer eine gute, normale Aufnahme. Ich bin stolz auf dieses Projekt, aber genauso mag ich, wie Bach es geschrieben hat. Ich bin eigentlich ein totaler Purist.“