Als Justin Doyle einmal gefragt wurde, was der Unterschied zwischen einem Chor- und einem Orchesterdirigenten sei, antwortete er lapidar: „Für den Chor benutzt man keinen Stab.“ Chorleiter führen und formen mit den bloßen Händen, Orchesterdirigenten akzentuieren und elaborieren mit dem filigranen Taktstock. In Berlin wandert der Taktstock (beziehungsweise die Leitung) nun gleich dreifach in neue Hände. Mit Beginn dieser Saison treten an: Vladimir Jurowski beim Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin (RSB), Justin Doyle beim RIAS Kammerchor und Robin Ticciati beim Deutschen Symphonie-Orchester Berlin (DSO). Ihr Alter, in genannter Reihenfolge: 45, 41, 34. Deutlicher geht es kaum. Nichts weniger als ein Generationenwechsel steht in der Hauptstadt an, der sich schon im vergangenen Jahr ankündigte: Nach einem etwas holprigen Findungs- und Entscheidungsprozess wurde der damals 44-jährige Kirill Petrenko zum Nachfolger von Sir Simon Rattle gekürt. Im kommenden Jahr übernimmt der Russe nun die Leitung der Philharmoniker.
Berlin gilt als Stadt mit der weltweit dichtesten Orchesterkonzentration. Zu den vier großen Orchestern (Berliner Philharmoniker, Konzerthausorchester Berlin, RSB und DSO) gesellen sich die Klangkörper der drei Opernhäuser (Staatsoper, Deutsche Oper, Komische Oper), dazu die beiden Rundfunkchöre sowie unzählige Spezialensembles, Kammermusikensembles, Nachwuchsorchester und so fort. Die einstige Teilung der Stadt schuf doppelte Infrastrukturen, förderte auch Identifikation und langanhaltende Treue der Zuhörer. Mit dem Mauerfall öffnete sich die Stadt, der Wettbewerb brachte Bewegung und neue Ideen. Ergebnis: Die Vielfalt erreicht viele, die Qualität ist hoch. Und als Metropole mit internationalem Flair, relativ günstigen Lebenshaltungskosten sowie als Schnittstelle zwischen west- und osteuropäischer Musiktradition zieht Berlin Talente von überall her an – gerade jene, die als zukünftige Spitzenkräfte gehandelt werden.
Der Schlangenbeschwörer: Justin Doyle
Wer sind diese drei Neuen, was zeichnet sie aus? Welche Tendenzen kündigen sich nach den bisher erlebten Dirigaten an? Als Justin Doyle am Neujahrstag 2017 sein Berlin-Debüt mit Händels relativ selten gespieltem Oratorium „Theodora” gab, waren sich Kritiker und Zuhörer einig: Das passt. Der RIAS Kammerchor habe für die Nachfolge des scheidenden Hans-Christoph Rademann eine gute Wahl getroffen. Doyles elastische Bewegungen, die den Dirigenten auch mal in die Knie absinken lassen, die Magie seiner Hände, die ausladenden Wege der Arme, erinnerten einen Kritiker an einen Schlangenbeschwörer. Was sagt der Sohn einer Musikerfamilie, einst Chorknabe an der Westminster Cathedral in London, später Operndirigent in seiner Heimatstadt Lancaster und in Leeds, zu dieser dem Märchenhaften entlehnten Charakterisierung? „Nun, ich spiele keine Pungi – und der Chor ist sicher auch weit weniger gefährlich als eine Kobra! Jede Bewegung meiner Hände sollte bei den Sängern eine Antwort hervorrufen und den Klang beeinflussen. Aber ganz gewiss betreibe ich absichtlich keine Hypnose.“ Die Antwort eines echten Briten, mit entsprechendem Humor.
Ganz britisch ist auch Doyles Leidenschaft für Cricket. Er hat sich schon informiert, wo man in Berlin dieser Sportart nachgeht: auf dem Maifeld in der Nähe des Olympiastadions. Wenn er mit seiner Familie umzieht, wird er eine Stadt erleben, die zwar „busy“ sei, aber nicht „full of people“. Das fiel ihm bei seinem ersten Besuch gleich positiv auf. Das einzige, was er vielleicht vermisse, sei die Stille der Hügel von Yorkshire, wo er sich gerne mit den Schafen unterhalte. Aber er freue sich auf die stimulierende Arbeit – und auf seinen Kollegen Robin Ticciati, den er zwar persönlich kenne, mit dem er aber noch nicht zusammen musiziert habe. Am 17. Dezember hat Doyle die Gelegenheit dazu, wenn er mit seinem neuen Chor und dem DSO das Großwerk „L’enfance du Christ” von Hector Berlioz in der Philharmonie Berlin aufführen wird. „Es ist wirklich aufregend, dass Robin Ticciati zur selben Zeit wie ich in Berlin beginnt.“
Der Charmeur: Robin Ticciati
Sein Name klingt nach Oper, nach italienischer Oper. Und in der Tat war er im Juni 2005 der jüngste Dirigent, der in der Geschichte der Mailänder Scala am Pult stand. Robin Ticciati war damals 22 Jahre alt. Neun Jahre später wurde er Musikdirektor der Glyndebourne Festival Opera. Diesen Posten wird er weiterhin parallel bekleiden, wenn er im September mit dem Deutschen Symphonie-Orchester Berlin (DSO) in die Saison startet. Es geht Schlag auf Schlag, mit ganz unterschiedlichen Programmen, was die reiche Bandbreite des in London geborenen Nachfahren italienischer Einwanderer zeigt.
Ticciati liebt ungewöhnliche Orte. In der Mall of Berlin am Leipziger Platz wird er beim „Symphonic Mob“ mit einem bunt gewürfelten Orchester von Amateuren und Mitgliedern des DSO proben und auftreten. Am darauffolgenden Dienstag feiert er den offiziellen Amtsantritt in der Philharmonie, um nur drei Tage später in die riesige Turbinenhalle des ehemaligen Heizkraftwerks an der Köpenicker Straße zu wechseln. Die Schweizer Elektrotüftler Yello traten hier auf, im Keller wummert der Technobeat des legendären Tresors. Ticciati will die Halle in ihrer Gesamtheit nutzen, verschiedene Positionen ausprobieren. „Ich stelle mir eine Reise durch viele Klangwelten und -farben vor, die durch eine entsprechende Lichtregie unterstützt wird. Ich möchte herausfinden, wo die klassische Musik in der heutigen Kultur steht.
Den Bogen der Geschichte zu spannen und gleichzeitig am Puls der Zeit zu forschen, das ist die Intention, die der junge Lockenkopf perfekt in die Programmatik des DSO einbringen kann und weiterführen wird. Dabei spielt er seine Bedeutung als einer der Besten seiner Generation locker herunter: „Vielleicht gibt es im Moment besonders viele Verrückte“, sagt er. Wenn man ihn so reden hört, wie er neugierig und doch souverän seinem Gegenüber begegnet, aufmerksam jede Regung aufnimmt, sein feines Englisch in warmtönenden Wogen jede Grobheit des Alltags vergessen lässt, erinnert Ticciati an einen anderen großen Charmeur: Simon Rattle. Nicht nur die äußerliche Ähnlichkeit ist frappant. Tatsächlich hat der eine – mittlerweile ergraute – Lockenkopf den anderen gefördert. Der junge Ticciati spielte im National Youth Orchestra Pauke, Rattle dirigierte. „Wir waren halb durch die Probe, da legte er den Stab hin und sagte: Robin, dirigiere jetzt mal, und ich höre zu. Und ich ging da runter …“ Von da an ging es bergauf mit dem unerschrockenen jungen Mann.
Der Heißsporn: Vladimir Jurowski
Rasant verlief auch die Karriere von Vladimir Jurowski. 1972 in Moskau geboren, entstammt er einer der großen Musiker- und Dirigentendynastien. 1990 ging er mit seinen Eltern nach Deutschland, setzte sein Musikstudium in Dresden und Berlin fort und blieb der Hauptstadt von 1997 bis 2001 verbunden, als er an der Komischen Oper Erster Kapellmeister war. „Ehrgeizig, ja musikalisch besessen und unbestechlich“ beschreibt ihn ein Kritiker aus der Erinnerung an jene Phase. Jurowskis Arbeit, sein zupackender Stil und seine Abenteuerlust werden weltweit geschätzt. Auch wenn er nun den Chefposten beim Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin übernimmt, wird er weiter viel unterwegs sein: London, Moskau, New York, Amsterdam, Salzburg, München. Er ist unermüdlich.
Wenn eine Charakterisierung passt, dann ist es die des Heißsporns – und die verschafft ihm Hochachtung. Mit seinem neuen Orchester, dem RSB, arbeitete er bereits 2014 zusammen, als er beim Musikfest die dritte Sinfonie von Alfred Schnittke einspielte, die im Jahr darauf als CD erschien. „Ich hatte immer das Gefühl, dass das ein Orchester ist, mit dem ich mich gut verstehen kann. Jetzt suchen wir eine gemeinsame Sprache.“ Das mag diplomatisch klingen, ist aber die Ankündigung von fordernder Hitze und purer Musizierlust. Vielleicht ist Vladimir Jurowski der Unermüdlichste von allen drei „Neuen“. Die Berliner dürfen sich in jedem Fall auf eine aufregende Saison freuen.
Übrigens geht es im nächsten Jahr es gleich weiter: Der Lette Ainar Rubikis (39) übernimmt zur Saison 2018/19 als GMD die Geschicke der Komischen Oper, und das Konzerthausorchester sucht noch nach einem Nachfolger für den 2018 scheidenden Iván Fischer.