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Porträt Chen Reiss

Mutig und meinungsstark

Chen Reiss brilliert mit ihrem Silbersopran bei Cavalli und Händel so stilgenau wie in Opern von Richard Strauss – und liebt das deutsche Kunstlied über alles.

vonPeter Krause,

Mit einer extra feinen Farbpalette mischt sie dem lyrischen Liebreiz ihres Soprans dramatischen Puls bei, wenn sie Verdis Gilda oder Mozarts Blondchen zu neuem Leben erweckt. Mit einem sublimen Reichtum an Nuancen deutet sie das deutsche Kunstlied von Clara und Robert Schumann, von Schubert, von Mahler und Strauss aus. Und mit ausgeprägter Neugierde und Mut betritt sie allzu gern Repertoire-Neuland, dabei stets mit selbstkritischem Bewusstsein für die Grenzen einer im Grunde mädchenhaft zarten Stimme, die direkt in unsere Herzen dringt. Chen Reiss bleibt sich treu und entwickelt sich dennoch mit großer Konsequenz, wenn sie ihre Meilensteine abschreitet, von denen sie gern spricht. In perfektem Deutsch betont die aus Israel stammende Sängerin, wie wichtig es ist, „die Hauptsprachen des Opernrepertoires zu erlernen und wirklich zu beherrschen“. Und empfiehlt ebendies auch den Schülern in ihren Meisterklassen eindringlich, denn „man singt anders in einer Sprache, in der man träumt!“ Am liebsten liest sie auch Bücher in Originalsprache, denn durch Übersetzungen gehe zu oft „die Musik in der Sprache“ verloren.

Der jüngste Meilenstein, den sie mit Bravour und von der Kritik gefeiert erreichte, war die Titelfgur in Francesco Cavallis „La Calisto“. Mit dem frühbarocken Meisterwerk debütierte sie dann auch gleich in der Mailänder Scala. Die titelgebende Nymphe Calisto gewann dank ihres silberklaren Soprans berührende Intensität. Die Herausforderung lag für Chen Reiss hier just im Verhältnis von Sprache und Musik: „Die vielen langen Rezitative mit ihrem sehr poetischen Vokabular verlangen es, die dramatische Spannung zu gestalten. Darauf folgen eben nicht die barocken Bravourarien eines Händel, in denen eine Sängerin sich sehr effektiv zeigen kann. Bei Cavalli gibt es stattdessen ganz viele intime Momente, die man nun in einem so großen Opernhaus wie der Scala zeigen muss.“ Da spielen die subtil variierte Dynamik und die Variabilität der Stimmfarben eine große Rolle für die Wortausdeutung. „Das war für mich eines der schönsten Projekte, die ich je gemacht habe.“

Erst das Wort, dann die Musik?

Ihr neues Album mit Werken von Fanny Hensel ist Chen Reiss eine echte Herzensangelegenheit
Ihr neues Album mit Werken von Fanny Hensel ist Chen Reiss eine echte Herzensangelegenheit

Den alten und mit jeder Opernvorstellung neu ausgefochtenen Streit zwischen Wort und Ton „prima la parola, poi la musica“ – oder eben genau umgekehrt – kommentiert sie als denkende Sängerin. „Bei Cavalli dient die Musik ganz dem Wort. Wenn bei Händel im Gegensatz dazu ein Wort in einer Arie ganz oft wiederholt wird, ist das anders, da geht es auch um vokale Akrobatik.“ Ebenso bei Bellini oder Donizetti, „da sind die Musik und die Stimme der Star. Bei den Traumpaaren der Oper wie Mozart und Da Ponte oder Strauss und Hofmannsthal wiederum ist die Verbindung naturgegeben und spielt eine riesige Rolle mit so viel Subtext und zwischen den Zeilen verstecktem Humor.“ Die Sophie in „Der Rosenkavalier“ hat Chen Reiss oft und mit großem Erfolg gesungen – zumal an der Wiener Staatsoper in der traditionellen Inszenierung von Otto Schenk. Da würde Schlamperei in der Diktion der Texte des heiligen Hofmannsthal kaum verziehen.

Meinungsstark gibt sich die in London lebende Sängerin, wenn es um den Furor der Aktualisierung von Opernstoffen geht. Sie beobachtet, wie manche Regisseure den Anspruch verfolgen, die Oper unbedingt mit dem alltäglichen Leben zu versöhnen und sie als eine Art Reality Show in Szene setzen. „Das halte ich für einen Fehler. Oper muss größer als das Leben sein. Und um dieses Große zu erleben, kommen die Menschen meiner Meinung nach in ein Opernhaus. Oper transportiert doch die ganz großen Gefühle und Leidenschaften.“ Chen Reiss bezweifelt auch, dass es richtig sei, die Werke dem mutmaßlichen Massengeschmack anzupassen: „Wir sollten akzeptieren, dass Oper nicht für alle ist. Sie ist eine Geschmacksache. Wie Fußball auch. Ich würde nie hundert Euro für ein Spiel ausgeben, weil es mich eben nicht interessiert. Umgekehrt heißt das: Nicht jeder muss die Oper lieben.“

Neuland betritt sie als echte Entdeckerin indes allzu gern. Ihre Aufnahme von weniger bekannten Beethoven-Arien habe sie gelehrt, dass das Vorurteil gar nicht stimmt, das besagt, der Wiener Klassiker aus Bonn könne so gar nicht für Stimme schreiben. Ein echtes Herzensanliegen ist der Sopranistin ihr jetzt erscheinendes Album mit Liedern von Fanny Hensel. „Wäre die Schwester von Felix Mendelssohn ein Mann gewesen, stünde sie heute in einer Reihe mit Schumann oder ihrem Bruder.“ Indes ihr Bruder und ihr Vater ließen gerade dies nicht zu. „Doch die Gesellschaft verliert, wenn Frauen ihre Stimmen nicht mit dem Rest der Welt teilen.“ Chen Reiss entdeckte, wie Fanny Hensel so dramatisch farbreich orchestriert, „mitunter fortschrittlicher als ihr Bruder, das klingt schon nach frühem Wagner. Sie hätte Talent für die Oper gehabt.“

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Transatlantic

Ab 25. März

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