Der Moment ist bedrückend und beglückend zugleich: Als das Chiaroscuro Quartet Mitte Oktober in Berlin die Bühne inmitten des Pierre Boulez Saal betritt, bleibt rundherum jeder zweite Platz frei. Ebenso trägt das gesamte Publikum weiße FFP2-Masken, die hier verpflichtend sind und kostenlos verteilt werden. Doch auch wenn dadurch die Mimik der Zuhörenden verborgen bleibt, ist die Freude über das kollektive Musik-Erleben vom ersten Ton an geradezu greifbar, auch auf Seiten der Musiker.
Die sind hierzu aus allen Himmelsrichtungen Europas angereist: Alina Ibragimova an der ersten Geige stammt aus Russland, Pablo Hernán Benedí an der zweiten aus Spanien, dazu die schwedische Bratschistin Emilie Hörnlund und die französische Cellistin Claire Thirion. War die Organisation gemeinsamer Proben und Konzerte schon vor Corona keine Fingerübung, ist es während der Pandemie eine kleine Meisterleistung: „Wir müssen uns täglich auf den neuesten Stand bringen, was Einreisebestimmungen angeht“, erzählen die Musiker beim Gespräch. „Im Fall von Beschränkungen haben wir dann nicht nur einen Plan B, sondern auch einen Plan C.“
Chiaroscuro – Licht und Schatten
Dass sie für ihre Leidenschaft nicht den leichtesten Weg gehen, zeigt auch ein anderes Detail: Als eines der ganz wenigen Quartette musizieren sie historisch-informiert, auf Darmsaiten. Diese sind empfindlicher, müssen viel häufiger nachgestimmt werden, klingen weniger poliert als Stahlsaiten – und haben doch ihren großen Reiz. „Du kannst dich hinter ihnen nicht verstecken“, erklärt es Cellistin Thirion. „Der Klang ist rauer, fragil, er schönt die Dinge nicht, sondern kann auch schnell ins Unangenehme abrutschen“, ergänzt Benedí. „Wenn wir an Mozarts Quartette denken“, sagt Alina Ibragimova, „diese gelten ja als anmutig, schön, elegant. Das ist aber nicht alles, sondern da ist auch viel Humor, Verzweiflung. Das d-Moll-Quartett Nr. 15 ist ein richtiger Aufschrei. Wir suchen nach dem Kontrast, nach einer großen Palette von Farben und Emotionen.“
Darauf spielt auch der italienische Name des Quartetts an (übersetzt „hell-dunkel“), zu dem ursprünglich der Dirigent Roger Norrington die Idee lieferte. „Als wir zusammen in London am Royal College of Music studierten, haben wir einmal mit ihm geprobt. Er sprach dabei über Harmonie und Spannung und hat das mit der Licht-Schatten-Technik in Barockgemälden verglichen: Sie müssen das chiaroscuro spielen!“
„Wir vertrauen uns blind.“
Seit seiner Gründung 2005 hat sich das Quartett durch die wichtigsten Kammermusiksäle der Welt gespielt, sieben Aufnahmen vorgelegt und einen Quartettklang entwickelt, den ein Musikkritiker des „Guardian“ einmal als „Schock für die Ohren der schönsten Art“ beschrieb. Auch beim Konzert im Boulez-Saal wird die Fallhöhe deutlich, der Kontrast zwischen düster und leuchtend, viel Leidenschaft fließt ins Detail, viel Energie auch in die leisesten Noten und feinsten Schattierungen.
Pablo Hernán Benedí beschreibt das Zusammenspiel mit dem Wort Familie: „Wir vertrauen uns blind, auch nach Monaten, die wir nicht gemeinsam musiziert haben. Wir haben so viele Stunden mit Proben verbracht, das ist auch ein sehr intimer Prozess. Jeder gibt alles, wir kritisieren einander, stellen uns Fragen – wir machen uns nackt.“ Das Vertrauen geht so weit, dass er und Primaria Ibragimova ein wertvolles Instrument, eine Andrea Amati von 1570, untereinander tauschen. „Das Instrument zu wechseln und trotzdem noch die gleiche musikalische Vorstellung einzubringen, ist eine wunderbare Übung, um flexibel zu bleiben.“
Ständige Weiterentwicklung
Abwechslung verspricht das Quartett auch im Hinblick auf das Repertoire. Bislang standen vor allem die Quartette der Wiener Klassik auf dem Programm, zukünftig wollen sie sich auch mehr mit der Spätromantik auseinandersetzen. „Natürlich entwickeln wir das weiter, wir werden Brahms und Schumann spielen, vielleicht auch Ravel und Tschaikowsky,“ sagt Bratschistin Emilie Hörnlund. „Wir haben uns viel mit Haydn, Mozart und Beethoven und ihrer Musiksprache beschäftigt, mit diesem Wissen und mit dieser Erfahrung im Gepäck gehen wir jetzt auf andere Komponisten zu.“
Apropos Gepäck: 2017 nahm das Quartett ein ganz besonders Werk im Studio auf: „A tribute to our suitcases and British Airways“. In dem zweiminütigen Video-Clip bedanken sie sich musikalisch-ironisch bei der englischen Airline, für immer wieder fehlende Koffer und ewige Warteschleifen am Service-Telefon. „Das Problem kennen natürlich viele Kollegen von uns. Einmal hatten wir eine Tournee, wo unser Gepäck immer erst zwei Tage später ankam – und da waren wir bereits in der nächsten Stadt.“