Die Leser der britischen Tageszeitung „The Independent“ dürften nicht schlecht gestaunt haben, als im Kulturteil die Überschrift prangte: „Bach? Zu langweilig! Chopin? Zu kitschig!“ – ein Zitat von Christian Zacharias. „Das ist mal wieder typisch, dass die sich aus dem Interview genau diesen Nebensatz von mir rausgefischt haben“, sagt der Pianist und Dirigent im Gespräch mit concerti. Er sei aber gar nicht sauer auf die Redaktion, schließlich könne der Artikel eine Diskussion anstoßen. Und er hatte sich ja tatsächlich so geäußert. Es ging einerseits um seine Beobachtung, dass so manche Chopin-Melodie äußerst kitschig klingt, wenn man sie singt – andererseits um Traditionen im Klassikbetrieb, die Zacharias in Frage stellt, wie die kataloghaften Einspielungen von Bachs Wohltemperiertem Klavier. „Wenn jemand von A bis Z alle Präludien und Fugen spielt, finde ich das einfallslos und undifferenziert, das ist so, wie wenn ich Ihnen ein Lexikon vorlese. Es gibt Brüche: Auch Bach ist mal besser und mal schlechter. Ich würde es entwerten, wenn ich an jedes der von mir geliebten Präludien die Fuge anschließen würde.“
Von Indien nach Karlsruhe
Christian Zacharias muss kein Blatt vor den Mund nehmen, denn er ist bereits eine Art Elder Statesman der Klassik. Eine Instanz, der Orchester und Intendanten vertrauen, weil seine Biographie Ecken und Kanten besitzt, aber eben auch die nötige Substanz und Beständigkeit. Begonnen hat diese Laufbahn, als er die Klassik-Schallplatten hörte, die sein Vater von Geschäftsreisen mitbrachte. Der war Ingenieur, arbeitete für längere Zeit in Indien, weshalb Zacharias im indischen Jamshedpur zur Welt kam. Mit elf begann er, an der Musikhochschule in Karlsruhe Klavier zu studieren, kurz nach dem Abitur zog er dann nach Paris, um bei Vlado Perlemuter lernen zu können.
Schließlich katapultieren ihn Preise beim Van Cliburn-Wettbewerb in den USA und beim Pariser Ravel-Wettbewerb in die internationale Pianisten-Liga, Zacharias avancierte in den 80er Jahren zu einem der gefragtesten deutschen Interpreten, insbesondere der Werke der Wiener Klassik. Wobei er auch Experimente nicht scheute, beispielsweise die Scarlatti-CD „Encore“ von 1995, auf der Zacharias 20 Aufnahmen ein- und derselben Sonate nebeneinander stellte, aus Konzertsälen von Amsterdam bis Zürich.
Der Wechsel ans Dirigenten-Pult
Und es sollte nicht beim Klavier alleine bleiben, seit 1992 ist er zusätzlich als Dirigent tätig, gab sein Debüt beim Genfer Orchestre de la Suisse Romande und arbeitete u.a. mit dem Los Angeles Philharmonic Orchestra und dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks. Gern dirigiert er auch vom Flügel aus. Mit dem Orchestre de Chambre de Lausanne, das er seit dem Jahr 2000 leitet, hat er auf diese Weise sämtliche Klavierkonzerte Mozarts eingespielt und dafür Preise wie den französischen „Diapason d’Or“ erhalten. Wenn man Videoaufnahmen dieser Zusammenarbeit anschaut, ist das durchaus faszinierend, wenn man sieht, welche besondere Einheit Zacharias mit den Musikern bildet und das Orchester bei langen Klavierpassagen allein mit seiner Gestik zu dirigieren weiß.
Er genießt diesen Luxus, zwischen Tastatur und Taktstock wählen oder unkonventionell kombinieren zu können: „In manchen Konzerten spiele ich erst eine Beethoven-Sonate, dann ein Klavierkonzert und dirigiere zum Schluss eine Sinfonie. Da sind viele Leute schon irritiert, weil es anders ist als die seit Jahrzehnten total eingeschlafene Abfolge Ouvertüre – Konzert – Sinfonie.“
Insgesamt tendiere er heute mehr zur Arbeit am Pult, sagt Zacharias. „Wenn du als Solist Klavierabende gibst oder Kammermusik machst, da ist man den einen Tag hier, den anderen Tag dort – dieses Hin und Her würde ich heute nicht mehr machen wollen. Und es hat natürlich auch technische Gründe. Der Aufwand für ein Klavierkonzert ist jetzt relativ groß, dafür muss ich wirklich jeden Tag zwei, drei Stunden üben, ansonsten kann es peinlich werden. Dirigieren kann ich aber, bis ich 90 bin, da kenne ich einige Dirigenten, die in dem Alter immer noch fit sind.“