Wunderkinder ereilt oft ein ähnliches Schicksal: Das Wunder geht, aber das Kind bleibt zurück und muss in einem schmerzvollen Prozess erwachsen werden. Ein bisschen erging es auch Daniel Harding so. Mit 15 gründet der Sohn eines Universitäts-Dozenten in Manchester mit Freunden am Internat ein Orchester, dessen Leitung er übernimmt. Als wäre dies nicht genug, setzen sie Arnold Schönbergs verteufelt vertracktes „Pierrot Lunaire“ aufs Programm und laden keinen Geringeren als Sir Simon Rattle zu ihrer Aufführung ein. Immerhin hört sich Rattle den Konzertmitschnitt an: „Technisch macht ihr vieles besser“, sagt er zu den Teenagern. „Nur von der Musik habt ihr leider nichts verstanden.“
„Mein kleines Genie“
Einen der jungen Musiker aber vergisst er nicht. Denn zwei Jahre später findet sich Daniel Harding als Assistent an der Seite von Rattle wieder. Er begegnet Hans Werner Henze auf der Münchener Biennale, lernt bei Pierre Boulez und wagt sich nach Berlin zu Claudio Abbado. Dieser wird ihn nicht nur als „mein kleines Genie“ bezeichnen, sondern ihm auch sein Mahler Chamber Orchestra anvertrauen, dessen Leitung Harding 2003 übernimmt. Zuvor wird er noch Chef des Trondheim Sinfonieorchesters sowie der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen.
„In England gab es Könige, die jünger waren als ich“, scherzte Harding seinerzeit selbstbewusst. Und: „Das ist wohl so bei manchen Menschen: Manche steigen sehr schnell auf. Andere weniger. Bezahlen muss man immer“, witzelte er damals und ahnte nicht, wie sehr das auch auf ihn zutreffen wird. Mit 30 hatte er zwar die Hälfte seines Lebens vor dem Pult verbracht und die wichtigsten Orchester der Welt dirigiert, dennoch geriet er in eine Krise. „Die Menschen lauern immer auf die nächste große Attraktion, und eine Zeit lang war ich das“, räumte er einmal in einem Interview in der ZEIT ein. „Doch dann stand ich da, mit dreißig Jahren, und dirigierte die Wiener Philharmoniker, als mein Leben in Trümmern lag.“
Auf der Suche
Seine Frau, mit der er zwei Kinder hat, hatte beschlossen, sich nach zwölf gemeinsamen Jahren von ihm zu trennen. Nach einem Eklat während einer Probe am Opernhaus in Paris beschloss er, sich seinen emotionalen Problemen zu stellen. Das hieß für ihn, „richtig zu arbeiten, mich zu verbessern“ ganz nach der Devise, es sei nicht wichtig, was passiere, sondern, was man daraus „mache“. Immer wieder erinnerte er sich an einen Satz seiner Mutter, demzufolge eine der schwierigsten Erkenntnisse im Leben sei, „dass wir uns alle an irgendeinem Punkt mit unserer Mittelmäßigkeit abfinden müssen.“
Und so begann er wie besessen daran zu arbeiten, dass dieser ernüchternde Gedanke nicht wahr werde. Fieberhaft suchte er nach Wegen, nach einer Körpersprache, die seine musikalischen Vorstellungen noch überzeugender vermitteln könnte, auch um jene Kritiker zu beschwichtigen, die behaupteten, er sei prätentiös, unmusikalisch und seine Interpretationen seien zu „kopflastig“. „Ich muss meine Hemmungen vergessen, dann kann ich mit den Armen magische Dinge vollbringen“. Zudem erwarb er die Pilotenlizenz und richtete sich in seinem Haus in Frankreich einen Flugsimulator mit Cockpit ein.
Unterschiedliche kulturelle Welten
Heute, mit Anfang vierzig, wirkt er immer noch jungenhaft. Er ist aber in jedem Falle geläutert. Als Chef des Orchestre de Paris weiß er, dass die Arbeit niemals aufhören wird: „Ich muss noch sehr viel lernen“. Und als vehementer Manchester United-Fan hält er sich an die Devise des Fußballclubs: „Wir verlieren nie ein Fußballspiel. Es gibt nur manchmal nicht genug Zeit, um zu gewinnen.“
Genug Zeit für einen Sieg blieb dem Briten auch nicht als Chefdirigent des Orchestre de Paris, ein Amt, das er erst 2016 antrat. Wie Ende Januar bekannt wurde, verlässt er nun vorzeitig zum Ende der Saison 2019/20 seinen Posten. In einem aufrichtigen Brief an die französischen Musiker lobte er deren Leistung, sprach aber auch von unterschiedlichen kulturellen Welten. Er wolle nicht „die Alpen in den Grand Canyon“ verwandeln. Viel besser sei es, eine kurze wundervolle Zeit miteinander zu haben, um dann „mit glücklichen Erinnerungen fortzufahren. Eure musikalische Natur zu ändern wäre ein Akt der Zerstörung, und ich werde es nicht tun.“ So, wie er es für sich auch beansprucht.
Daniel Harding dirigiert Sibelius‘ siebte Sinfonie:
https://youtu.be/X_mlVEJiRD0