Das Boston Symphony Orchestra (BSO) mit Tschaikowskys Fünfter: Sehnsuchtsvolle Streicher mit Körper und Tiefe, brodelnd, dramatisch, Transparenz, gefühlvolles Horn, knackiges Blech, auch schneidend, packende Rhythmen. Oder Schostakowitsch, ebenfalls fünfte Sinfonie: Da sitzt jede Nuance, jeder sarkastische Unterton. Andris Nelsons, seit 2014 Chefdirigent, schwärmt, Schostakowitsch und Mahler habe er „nie so großartig im Klang erlebt wie mit dem Boston Symphony Orchestra“. Bei Mahler werden die Extreme ausgekostet: „Dieses Orchester ist in der Lage, diese Intensität durchzuhalten, weiterzutreiben, sie lassen nicht nach darin“, so Nelsons.
Das BSO verbindet offenbar das Beste aus vielen Welten. Dies liegt an seiner Geschichte mit markanten Orchesterleitern: 1881 gegründet (und damit nach dem New York Philharmonic das zweitälteste Profiorchester der USA), wird das BSO zu Beginn von der österreichisch-deutschen Musiktradition geprägt, etwa vom legendären Arthur Nikisch. Nach dem Ersten Weltkrieg kommt mit Pierre Monteux, der in Paris Strawinskys „Petruschka“ und „Le Sacre du printemps“ uraufgeführt hat, französischer Einfluss. Dies wird ab 1949 von Charles Münch mit Werken von Berlioz, Debussy und Ravel fortgesetzt. Dazwischen liegt die wichtige Ära des visionären Serge Koussevitzky: Er vereint in seiner 25 Jahre währenden Amtszeit in Boston die russische Schule mit seinen Erfahrungen aus Berlin und Paris und weckt die Neugierde auf Neues. Strawinskys „Psalmensinfonie“ und Bartóks „Konzert für Orchester“ werden mit Koussevitzky vom BSO uraufgeführt. Nur der Japaner Seji Ozawa ist noch länger Orchesterchef in Boston – rekordreif von 1973 bis 2002 – und bringt neue Impulse mit Zeitgenossen wie Henze und Takemitsu.
Drei Konzertmeister in neunzig Jahren
All diese Einflussfaktoren bestimmen heute den Klang des Orchesters – in direkter Überlieferung. „Das Boston Symphony Orchestra ist ein Ziel-Orchester“, sagt Intendant Mark Volpe nicht ohne Stolz: „ Die Musiker kommen zu uns, um zu bleiben. In neunzig Jahren hatten wir nur drei Konzertmeister. Die Erfahrungen werden von Generation zu Generation weitergegeben. Die Bogenführung der Streicher geht auf Koussevitzky zurück. Bei Werken von Leonard Bernstein bezieht sich die Interpretation direkt auf den Komponisten.“ Bereits seit 1900 verfügt das BSO mit der Symphony Hall in Boston auch über einen Saal mit vorzüglicher Akustik. Timothy Genis, erster Paukist des BSO, sagt, diese Halle ermögliche einen derart guten Klang, dass er und seine Kollegen auf Tourneen stets das Gefühl haben, sie würden nicht so gut klingen. Ein Ansporn, mit besonderen Spieltechniken woanders den Boston-Sound zu erzeugen.
Das Boston Symphony Orchestra als mehrfacher Grammy-Gewinner
Und dann ist da noch das Musikfestival von Tanglewood in der Idylle der grünen Berkshire Mountains im Westen von Massachusetts, einst von Serge Koussevitzky gegründet: jährliche Sommerresidenz des BSO, Festwochen und Musikakademie für Absolventen in einem. In diesem Jahr hat sich das Tanglewood dem 100. Geburtstag Leonard Bernsteins verpflichtet. Der amerikanischen Dirigent und Komponist war dem Festival und dem BSO wie kein anderer verbunden: 1940 noch Schützling Koussevitzkys, arbeitete er bald als Dozent für das Tanglewood Music Center und brachte bis zu seinem Tod 1990 regelmäßig Stücke mit dem BSO zur Aufführung.
Die Summe all dieser Erfahrungen macht die glühende Spielkultur der Bostoner aus. Chefdirigent Andris Nelsons ist klug und sensibel genug, um auf Augenhöhe aus den Musikern ihre Fähigkeiten herauszulocken. „Er hilft, Klang zu inspirieren“, so Intendant Mark Volpe. Und Timothy Genis sagt dazu: „Andris Nelsons kennt genau den Grad zwischen der Führung des Orchesters und der Freiheit, uns selbst entscheiden zu lassen.“ Die Ergebnisse können sich sehen lassen: Grammy 2016 und 2017 für CDs aus der Reihe sämtlicher Schostakowitsch-Sinfonien, begeistert aufgenommene Heimkonzerte und gefeierte Tourneen durch Japan und Europa.