„Mayer, E., Komponistin“ heißt es in einem Eintrag im Adressbuch von Stettin. Dies wäre weiter nicht ungewöhnlich, handelte es sich nicht um einen Vermerk aus dem Jahr 1862 – und stünde da nicht Komponistin anstelle von Komponist. Hinter dieser Eintragung steckt eine Frau, die zeitlebens als „weiblicher Beethoven“ gefeiert wurde, die sich in ihrem Berufswunsch nie beirren ließ und nach ihrem Tod dennoch in Vergessenheit geriet: Gestatten, Mayer, E. oder Emilie Mayer.
Friedland, 1812. Ein verschlafenes Städtchen zwischen Neubrandenburg und Anklam mitten in Mecklenburg. Emilie Mayer wird als Tochter des örtlichen Apothekers in eine wohlhabende Familie geboren. Die Mutter stirbt nur zwei Jahre später und hinterlässt fünf Kinder, die der Witwer mithilfe von Dienstboten aufzieht. Emilie Mayers Vater geht mit der Zeit: Er lässt seine Töchter von einem Privatlehrer unterrichten und fördert sie in den schönen Künsten. So beginnt Emilie Mayer bereits im Alter von fünf Jahren mit dem Klavierspiel und legt ihrem Lehrer Carl Driver erste Kompositionen vor. Bis zu diesem Punkt verläuft das Leben der Komponistin wie das so vieler begabter, junger Frauen ihrer Zeit: Die nächsten Schritte wären vermutlich Heirat, Muttersein und Haushaltsführung – selbstverständlich mit Abkehr von allem künstlerischen Interesse.
Von Friedland nach Berlin
Doch Emilie Mayers Leben verlief anders: Nachdem ihre Geschwister geheiratet und das väterliche Haus verlassen hatten, oblag ihr die Pflege des Haushalts und des Vaters. Wahrscheinlich hätte sie dies ihr ganzes Leben getan, wie so viele unverheiratete Frauen damals. Doch im Jahr 1840, Emilie Mayer war gerade 28 Jahre alt, machte ihr Leben eine Kehrtwende: Ihr Vater, Dreh- und Angelpunkt ihres bisherigen Alltags, nahm sich das Leben, und seine Tochter sah sich nicht nur mit einem reichen Erbe, sondern auch mit unerwarteter Freiheit konfrontiert. Für die Friedländerin, die Zeitgenossen als etwas eigen und streng, manchmal verschlossen, aber sehr geistreich beschrieben, eröffnete sich die Möglichkeit, sich ganz ihrer Berufung zu widmen: der Komposition. Sie packte Koffer, schwarzen Regenschirm und den Mantel, an den sie die Kleinigkeiten des täglichen Lebens angenäht hatte, um nichts zu verlieren, und verließ Friedland gen Stettin.
Beim dortigen Studium bei Balladen-Papst Carl Loewe wurde schnell klar: Die kleine Form war Emilie Mayers Sache nicht. Erste Kammermusikwerke und zwei Sinfonien entstanden, bevor die Komponistin auf Empfehlung ihres Lehrers zu Adolf Bernhard Marx und Wilhelm Wiprecht nach Berlin wechselte. Beide waren nicht nur hervorragende Lehrer, sondern auch wichtige Persönlichkeiten des Berliner Musiklebens, die ihrer Schülerin Tür und Tor in die Gesellschaft öffneten.
Beruf: Komponistin
Erstmals an die Berliner Öffentlichkeit trat Emilie Mayer mit einem Streichquartett, das bei einer Matinee junger Komponisten vorgestellt wurde. Danach jagte ein Erfolg den anderen: Die Aufführungen ihrer Werke am Königlichen Schauspielhaus – für die eine persönliche Erlaubnis des Königs vonnöten war und bei denen in der Folge die königliche Familie auch anwesend war –, die Komposition zahlreicher groß besetzter Sinfonien sowie die Gründung eines eigenen musikalischen Salons, der sich in der Berliner Gesellschaft höchster Beliebtheit erfreute, prägten die folgenden Jahre. „Emilie Mayer war, so finde ich, die erste hauptberufliche Komponistin der Zeitgeschichte“, sagt Prof. Reinhard Wulfhorst von der Edition „Massonneau“, der als einer der wenigen heutzutage Emilie Mayers Werke verlegt.
Doch auch Berlin war der Komponistin nicht genug: Das Mädchen vom Lande wollte hoch hinaus. Brüssel, Dessau, Halle, München, Leipzig, Wien – ihre Orchesterwerke traten ihren Erfolgsweg durch Europa an. Emilie Mayer erfuhr Ehrungen, die vor ihr noch keiner komponierenden Frau zuteil geworden waren: In München wurde sie zum Ehrenmitglied der Philharmonischen Gesellschaft ernannt, war Mitvorsteherin der Opernakademie Berlin und erhielt von Königin Elisabeth von Preußen einen Orden für ihre musikalischen Verdienste.
Emilie Mayer: Sinfonie Nr. 7 f-Moll:
Das schöne Geschlecht
Doch so erfolgreich Emilie Mayer auch war: In einer von Männern dominierten Welt waren ihre Kritiker nicht selten unbarmherzig und reduzierten sie auf ihr Geschlecht. So schrieb 1850 die Berliner Musikzeitung: „Was weibliche Kräfte, Kräfte zweiter Ordnung vermögen – das hat Emilie Mayer errungen und wiedergeben.“ Und noch etwas abfälliger formuliert Alex. Winterberger 1873 in der Neuen Zeitschrift für Musik: „Wenn sich Damen aufs Componiren legen, so hat es damit zumeist seine eigenen Bewandnis, die wir aber wohl nicht näher zu erörtern brauchen. Thatsache ist, daß junge Mädchen, Gattinnen und Mütter auf diesen Irrweg selten gerathen. […] Uebrigens soll damit durchaus nicht gesagt sein, daß Emilie Mayer nicht […] zur Abwechslung eine Symphonie oder sonstige derartige Kleinigkeit vom Stapel laufen lassen kann […].“
Aber Emilie Mayer wäre nicht Emilie Mayer, wenn solcherlei Kritik sie von ihrem Weg abgehalten hätte. Nach einem kurzen Intermezzo zwischen 1862 und 1875 in Stettin, zog es die mittlerweile 64-Jährige zurück in die Großstadt. In Berlin feierte sie dann ihren wohl größten Erfolg: 1880 wurde ihre Ouvertüre zu „Faust“ frenetisch gefeiert. Bevor Emilie Mayer 1883 unerwartet verstarb, widmete sie keinem Geringeren als Geiger Joseph Joachim ihr letztes Werk, das Notturno op. 48. Ihr Nachruf erschien in allen relevanten Musikzeitschriften.
Gefeiert, vergessen, behutsam wiederbelebt: Emilie Mayer
Doch wie kann es sein, dass dieser „weibliche Beethoven“, diese eigensinnige wie eigenwillige Zeitgenossin von Schumann, Wagner, Brahms, Chopin und Liszt so schnell nach ihrem Tod in Vergessenheit geriet? Und das, obwohl sie als einzige Frau der Romantik über die Grenzen Deutschlands hinweg berühmt war? Eine Frau, die nach heutigen Standards mit dem Mindset einer toughen Geschäftsfrau ihr Leben erfolgreich in die richtigen Bahnen lenkte?
Emilie Mayers Gesamtwerk, das neben acht Sinfonien und mindestens fünfzehn Konzertouvertüren eine Vielzahl von kammermusikalischen Gattungen abdeckt, erschien nur selten im Druck – denn dieser war teuer und außerhalb der häuslichen Kammermusik wenig lukrativ. So lagern ihre Handschriften bis heute in Berlin und werden nur selten hervorgeholt. Auch gab es keine Schüler, die ihr Werk weiter hätten propagieren können. Und dann wäre da noch der Fakt des Frauseins, den man leider nicht außer Acht lassen darf.
Emilie Mayer: Faust-Ouvertüre:
Nach dem Erscheinen einer ausführlichen Dissertation von Almut Runge-Woll im Jahr 2003 setzte erst ab 2012, anlässlich der Feierlichkeiten zu Emilie Mayers 200. Geburtstag, die Beschäftigung des Konzertbetriebs mit der Komponistin aus Mecklenburg ein. Allen voran ging die Neubrandenburger Philharmonie, die – mit der Nähe zu Emilie Mayers Geburtsort Friedland – die Regionalität des musikalischen Erfolgsexports unterstützen wollte. Im Jubiläumsjahr widmeten dann die Festspiele Mecklenburg-Vorpommern der Komponistin einen Schwerpunkt und auch das Konzerthaus Berlin beschäftigte sich in kleinem Rahmen mit der Ziehtochter der Stadt. In letzter Zeit wurden die Stimmen um Emilie Mayer erneut lauter: Durch den Einsatz von SWR2 erschienen nicht nur die Klaviertrios mit dem Trio Vivente bei cpo, sondern auch kürzlich die Klavierquartette, aufgenommen vom Mariani Quartett. Auch der Film „Komponistinnen“, der im November 2018 Premiere feiert, wird sich unter anderem Emilie Mayer widmen.
Insbesondere das Mariani Quartett hat sich zu einem Fürsprecher der Komponistin entwickelt. Primarius Philipp Bohnen beschreibt die Faszination für die Friedländerin so: „Ihre Werke sind wie eine wunderbare Entdeckungsreise. Es ist spannend, so unvoreingenommen eine Komponistin und ihren Stil kennen zu lernen.“ Auch mache es großen Spaß, auf unausgetretenen Pfaden zu wandeln: „Emilie Mayer hat sich an Haydn, Mozart, Beethoven und Schumann orientiert, aber es dennoch geschafft, ihren eigenen Stil zu finden: Es gibt immer wieder harmonische Wendungen, mit denen man nicht rechnet; Stimmführungen, bei denen es in ganz andere Richtungen geht. Es gibt rhythmische Finessen und Tonwendungen, die von unglaublicher Kompositionsfreude zeugen. Vieles überrascht und widerspricht allen Hörgewohnheiten, die man so hat. Ich habe das Gefühl, dass sie ihren eigenen Humor mit emotionaler Tiefe zu verbinden weiß.“ Und Bohnen schließt mit dem wohl größten Kompliment, das man Emilie Mayer machen kann: „Diese Frau konnte einfach komponieren.“
Das Mariani Quartett über die Aufnahme von Emilie Mayers Klavierquartetten: