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Eröffnung des Pariser Konzerthauses „La Seine Musicale“

Die Seine-Philharmonie klingt einfach famos

(Paris, 22.4.2017) Akustik-Guru Toyota und Stararchitekt Shigeru Ban konzipieren ein segelndes Konzerthaus

vonPeter Krause,

Alles fließt, alles ist wohl gerundet, gar nicht eckig, gar nicht hierarchisch. Dieses neue Konzerthaus vor den westlichen Toren von Paris gleicht einem UFO, das geradewegs auf der Insel Seguin gelandet ist, wo es sich freilich seinem Umfeld sogleich anpasst und zu einem Schiff mutiert, das galant die Seine hinab zu gleiten scheint. Und so heißt dieser neue Kulturkomplex denn auch treffend La Seine Musicale.

Die Architekten Shigeru Ban und Jean de Gastines haben ihn konzipiert und sich dabei von maritimen Metaphern en masse leiten lassen: Das Vollrund des zentralen Auditoriums wird außen von einem Segel umspannt, das nicht bloßes Signet des Gebäudes ist, sondern mit Solarelementen bestückt für ökologisch korrekte, CO2-neutrale Energieoptimierung sorgt – und nebenbei für Schatten im dahinterliegenden Dom der Musik. Und da die Sonne nun mal von Ost nach West wandert, folgt auch das Segel dem Lauf des Kraftspenders der Erde – es fährt auf Gleisen um das Konzerthaus herum.

Sechs dicke rote Würste als extrabequeme Sitzfläche

Laurence Equilbey im Konzertsaal des "La Seine Musicale"
Dirigentin Laurence Equilbey im Konzertsaal des „La Seine Musicale“ © Julien Benhamou

Der Innenraum greift die Bewegungsimpulse der Hülle auf: Die Decke des Auditoriums ist wellenförmig angelegt, die Wände, ganz aus Holz, nehmen das Muster auf, variieren es zugleich mit Web- und Flecht-Strukturen. Die Sessel des einladend hellen Saals sind zwar im traditionellen Opern-Rot gehalten, mit ihren sechs wohligen Würsten auf den Sitzflächen und derer acht für die Rückenlehnen sind sie indes ungleich bequemer als handelsübliche Varianten in Konzert- oder Opernhäusern. Die durchweg natürlichen Formen fördern die Funktion.

Insula Orchestra unter Dirigentin Laurence Equilbey wird Residenzensemble

Und die Akustik? Wie am Fließband berät derzeit Akustik-Guru Yasuhisa Toyota Konzerthaus-Neubauten allerorten. Nach der 2015 eröffneten Philharmonie von Paris und der erst im Januar dem Publikum übergebenen Hamburger Elbphilharmonie sowie des Berliner Pierre-Boulez-Saals zeichnet er mit Nagata Acoustics auch für das Klangdesign des neuesten Konzerthauses von Frankreich verantwortlich.

Yasuhisa Toyota vor der „weißen Haut“ des großen Saals der Elbphilharmonie
Yasuhisa Toyota vor der „weißen Haut“ des großen Saals der Elbphilharmonie © Michael Zapf

Mit 1.150 Plätzen hat er die halbe Kapazität der zuvor in Paris und Hamburg eingeweihten Säle und ist dementsprechend für die kammerorchestral besetzte Musik von der Frühklassik bis zur Frühromantik ideal.

Residenzensemble ist das erst 2012 gegründete Insula Orchestra, das gerade mit einer CD-Veröffentlichung von Mozarts „Krönungsmesse“ für Aufhorchen sorgt. Leiterin des Ensembles ist Laurence Equilbey. Prägende Meister der Dirigentin waren Claudio Abbado und Nicolaus Harnoncourt. Der historischen Aufführungspraxis auf alten Instrumenten verpflichtet, verbindet die Französin Markenzeichen ihren beiden großen Lehrer – dem italienischen Gesang abgelauschtes vokales Phrasieren und der Sprachrhetorik nachspürende Klarheit der Konturen.

Die Akustik: Transparenz ohne Trockenheit

In den beiden Eröffnungskonzerten klingt die Synthese beider Einflüsse zum Glück so gar nicht nach faulem Kompromiss. Voller Vitalität spielt das Insula Orchestra fetzig und füllig zugleich. Selten stimmt ein Mozart-Bild so genau wie bei Equilbey und ihren famosen Musikerinnen und Musikern. Ausgerechnet mit Ausschnitten aus „Die Gärtnerin aus Liebe“ steigt sie in den Abend ein – und betritt damit für ihre Landsleute ein wenig vertrautes Terrain. In Toyota-typischer Transparenz, aber ganz ohne die Elbphilharmonie-typische Trockenheit, transportiert der Saal das fein austarierte, delikate Klangbild des Orchesters.

Insula Orchestra und Chor „accentus“
Insula Orchestra und Chor „accentus“ © Julien Mignot

Im Wechsel der famosen Sänger (darunter Sopranistin Sandrine Piau und Bariton Florian Sempey) von der deutschen Fassung des Stücks zu italienischen, französischen und englischen Textteilen schwingt zudem ein transkultureller Spaßfaktor mit, den das Publikum als durchaus deutlichen Seitenhieb auf die neonationalen Tendenzen versteht, die bei den zeitgleich stattfindenden Präsidentschaftswahlen für Schlagzeilen sorgen. Mozarts Musik wird so mehr denn je zum europäischen, alles verbindenden Kultur-Kitt. Und erschüttern vom islamistischen Terror lassen sich die auf herrlich lockere Weise festlich gestimmten Franzosen an diesem Abend auch nicht. Das teils inszenierte Konzert gerät lustvoll, gar nicht musikvermittlungsdidaktisch wie drei Monate zuvor die Eröffnung von Hamburgs neuem Musentempel.

La Seine Musicale
La Seine Musicale © Air Images/Philipe Guinard

Mozarts europäischer Kulturkitt lässt Le Pen alt aussehen

Auch das „Freischütz“-Potpourri ist hernach von europäischem Geist erfüllt – die Wolfsschlucht-Szene wird in der französischen Fassung musiziert, die aus der Feder von Hector Berlioz stammt. Schließlich: Beethovens überschwängliche Vorstudie zur „Neunten“ – die Fantasie für Klavier, Chor und Orchester. Da werden jetzt auch die Grenzen der Saalakustik getestet, die hält, was sie verspricht.

Weniger obertonoptimiert als die Elbphilharmonie, dafür erdiger, körperbetonter, plastischer klingt dieses Auditorium, das zudem als veritables Kulturzentrum auf die Integration der Musikstile und Publika setzt. Denn auf dem einstigen Fabrikgelände von Renaut wurde auch ein bis zu 6.000 Menschen fassender Saal für die U-Musik gebaut. Kein geringerer als Bob Dylan ist dort einen Tag vor der Eröffnung des Klassik-Auditoriums aufgetreten. Der für die Elbphilharmonie erfundene, bislang dort nur kaum eingelöste Slogan vom „Haus für alle“ ist hier mehr als wohlfeiler Marketing-Spruch, er ist Realität.

Paris schlägt Hamburg mit erfolgreichem Bau- und Betriebskonzept

Real und kulturökonomisch reell war auch die Entstehung des doppelten Konzerthauses. Hier wurden nicht hunderte Millionen Euro in der Seine versenkt, sondern in drei Jahren Bauzeit schlanke 170 Millionen verbaut. Das Erfolgsrezept liegt offensichtlich im Miteinander von öffentlicher Hand und privaten Investoren, gemeinsam, als Public Private Parnership also, wird La Seine Musicale jetzt auch betrieben.

concerti-Tipp:

Unter der künstlerischen Leitung von Laurence Equilbey ist das Insula Orchestra am 05. und 06. Juni 2017 auch in Hamburgs Elbphilharmonie zu Gast. In der Koproduktion mit den Ludwigsburger Schlossfestspielen, der Elbphilharmonie, dem Theater der Welt und La Fura dels Baus, einer renommierten katalanischen Kreativtruppe, darf mit Spannung Joseph Haydns Schöpfungs-Oratorium erwartet werden.

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