Kühn, bizarr, mutig, verrückt – bisweilen auch bissig: Befragt man erfahrene Interpreten zur Musik Carl Philipp Emanuel Bachs, sprudeln die starken Begriffe nur so hervor. Der zweitälteste Sohn des großen Johann Sebastian beeindruckt durch unkonventionellen Ausdruck, neuartige Formen, immer wieder andere Ideen und eine zutiefst persönliche Art, sich mitzuteilen. Im Konzertbetrieb ist die Musik jedoch noch immer ein Spezialfeld, und die allgemeine Wahrnehmung tendiert dahin, Carl Philipp vor allem als Nachkommen des berühmtesten Vertreters der Bach-Familie einzuordnen. Was kaum etwas bringt. So sagt der Dirigent Hans-Christoph Rademann: „Carl Philipp übertrifft seinen Vater in der Intensität des Espressivo, und es gibt deutlich mehr Überraschungen. Allerdings hat Johann Sebastians Werk teilweise mehr an inhaltlicher Tiefenstruktur aufzuweisen.“ Am Ende bleibe daher, so Rademann, ein „Vergleich der Kompositionen von Vater und Sohn immer unbefriedigend, so reizvoll er auch erscheinen mag.“
Hohe Ämter in Berlin und Hamburg
Zudem hat Carl Philipp Emanuel Bach ihn auch gar nicht nötig. „Bach in Hamburg führt die Clavieristen an, wie Klopstock die Dichter. Er macht nicht nur für unsere, sondern auch für die Folgezeit Epoche. Seine Setz-und Spielart ist gleich unnachahmlich“, heißt es 1775 beim Dichter und Komponisten Christian Friedrich Daniel Schubart. Dies war das Ergebnis von Begabung, aber auch einer höchst prägenden Kindheit und Jugend, wie der 1714 in Weimar geborene Carl Philipp einst selbst äußerte: „In der Komposition und im Clavierspielen habe ich nie einen anderen Lehrmeister gehabt, als meinen Vater.“ In Leipzig erhielt der Bach-Sohn eine umfassende musikalische Ausbildung, schuf erste eigene Werke und spielte als Virtuose am Klavier bei Konzerten des Vaters.
Während des Jurastudiums in Frankfurt (Oder) unterrichtete er ab 1734 junge Adlige und leitete Musikaufführungen – die ideale Position, um vom Kronprinzen Friedrich für eine hochkarätig besetzte Hofkapelle in Rheinsberg ausgewählt und später Cembalist am Berliner Hof zu werden. Hier erduldete Carl Philipp schließlich 30 Jahre lang Friedrichs bisweilen despotischen Führungsstil, war in dieser Zeit aber auch eine wichtige und gut vernetzte Persönlichkeit des bürgerlichen Berliner Musiklebens. 1768 trat er schließlich als Nachfolger seines Patenonkels Georg Philipp Telemann das Amt des Musikdirektors an den fünf Hamburger Hauptkirchen an. Kurz nach Carl Phillips Tod am 14. Dezember 1788 soll Mozart geäußert haben: „Er ist der Vater, wir die Buben. Wer von uns ‚was Rechts kann, hat von ihm gelernt.“
Viele Wiederentdeckungen zum Jubiläumsjahr
200 Jahre später hatten sich die Maßstäbe komplett verschoben: Nun war Johann Sebastian der Bach schlechthin, die Musik der Söhne so gut wie vergessen. Der Dirigent Hartmut Haenchen, der seinem Kammerorchester 1982 den Namen Carl Philipp Emanuel Bach gab, erinnert sich: „Als ich das Ensemble mit diesem Namen versah, war Carl Philipp nicht nur in der DDR, sondern in ganz Europa am Rande der Wahrnehmung. Nicht nur im Konzertleben, sondern auch bei den Medien.“ So legte das Kammerorchester erstmals eine Einspielung aller Sinfonien des Bach-Sohnes vor, führte diese und weitere Werke live auf und sorgte bei vielen Hörern für Begeisterung. Haenchen: „Als die ersten Platten herauskamen, erhielt ich Briefe von jungen Leuten; da schrieb mir ein 13-Jähriger: ‚Diese Musik ist hot‘. Für mich eine der schönsten Bemerkungen, die ich jemals bekommen habe! Vielleicht ist die Musik gerade durch die kontrastreiche und abrupte Art dem heutigen Lebensgefühl ganz nah.“
Darauf baut auch das große Jubiläum 2014: Den 300. Geburtstag Carl Philipp Emanuel Bachs am 8. März feiern ein eigens gegründetes Städtenetzwerk, Konzertveranstalter und Plattenlabels mit speziellen Angeboten. Dutzende Neuveröffentlichungen von Werken aller Genres gibt es bereits, Konzerte landauf und landab bringen Carl Philipps Werke in beeindruckender Vielfalt zu Gehör, neue Bücher und Ausstellungen geben Einblick in sein Leben und seine Musik. Und mag man auch von Jubiläen halten was man will – sie bieten inhaltlich Chancen. Hans-Christoph Rademann etwa sagt: „Interessante Programme werden immer seltener gespielt … Wir bestrafen uns damit ein wenig selbst, denn es liegen viele unbekannte Schätze zu Unrecht unbeachtet da. 2014 können wir Carl Philipp Emanuel Gerechtigkeit widerfahren lassen, indem wir sein Werk mehr als sonst berücksichtigen.“
Der Mut, die Frechheit machen seine Musik aus
Die verdient die Musik fraglos. Für den Pianisten und Dirigenten Christian Zacharias, der jüngst mit seinem Orchestre de Chambre de Lausanne einige der Berliner Sinfonien eingespielt hat, liegt das Besondere bei Carl Philipp im „kleinteiligen Zerbrechen von Formen“, im „Abbrechen und Wiederansetzen“; die Musik sei reizvoll, „weil sie gerade nicht die große Linie gibt, weil sie zwischendrin aufhört und fragt und zögert. So ist man gezwungen hinzuhören, sich auch mal selbst eine Frage zu stellen und die Antwort – vielleicht – um die Ecke zu finden. Das ist absolut einzigartig.“ Cembalistin Christine Schornsheim sieht es ähnlich: Das „Fantasierende, der Mut, die Frechheit, der Reichtum unterscheiden Carl Philipp Emanuel klar von Zeitgenossen wie Johann Philipp Kirnberger oder Christoph Nichelmann und erst recht von Johann Joachim Quantz oder Friedrich II.“ Zu den Bewunderern zählt auch Dirigent Reinhard Goebel: Die „Musik des ZePeEh“ stellt „nichts dar, sie bildet nicht ab, sondern legt Innenleben von Kopf und Herz offen – verlangt gleichermaßen und gleichzeitig distanziert-intellektuelles Verstehen und emotionale Rührung.“
Genau das könnte jedoch dem Einzug der Werke ins ständige Repertoire im Weg stehen. Der hohe Anspruch an Interpreten wie Hörer macht es angesichts knapper Probenzeiten, aber auch des großen Bedarfs an direkt vermittelbarer Musik nicht allzu wahrscheinlich, dass sich die Spielpläne nachhaltig zugunsten des Bach-Sohnes verschieben. Reinhard Goebel: Diese Musik ist „zu reich an Konnotationen aller Arten – hier ein Bezug zum Vater, dort ein Aufschrei gegen Georg Christoph Wagenseil und Johann Andreas Colizzi, hier ein bizarrer Stolper-Akkord, dort ein fast unlösbares bogentechnisches Problem oder ein hingehauchtes Ornament, auf das man sich einlassen muss!“ Es ist Musik, die man, so Goebel, „mindestens dreimal“ lesen müsse, um sie zu verstehen. Und hören natürlich. Die Möglichkeiten im Jubiläumsjahr sollte man daher ausgiebig nutzen.
Die CD-Tipps der concerti-Redaktion zum Jubiläum:
Sinfonien Wq 174, 175, 178, 179 & 181 „Berliner Sinfonien“
Orchestre de Chambre de Lausanne, Christian Zacharias (Leitung)
MDG
Magnificat, „Heilig ist Gott“ & Sinfonie Wq. 183 Nr. 1
RIAS Kammerchor, Akamus Berlin, Elizabeth Watts, Wiebke Lehmkuhl, Lothar Odinius, Markus Eiche, Hans-Christoph Rademann (Leitung). harmonia mundi
Sämtliche Werke für Klavier solo
Ana-Marija Markovina (Klavier)
hänssler Classic (26 CDs)
Flötenkonzerte Wq 22 & 166-169
Kammerorchester C.P.E. Bach, Eckart Haupt (Flöte), Christine Schornsheim (Cembalo), Hartmut Haenchen (Leitung)
Phoenix Edition (2 CDs)
Sinfonien, Oboen-, Flöten-, Cello- & Cembalokonzerte, Orgel- & Cembalosonaten u.a.
Orchestra of the Age of Enlightenment, Amsterdam Baroque Orchestra, Bob van Asperen, Alan Curtis u.a.. Warner Classics
Sinfonien Wq. 174, 175, 178, 179 & 181 „Berliner Sinfonien“
Kammerorchester C.P.E. Bach, Hartmut Haenchen (Leitung)
Brilliant Classics
Klavierkonzerte Wq 22, Wq 43/5 & Wq 46
Michael Rische & Rainer Maria Klaas (Klavier), Kammersymphonie Leipzig
hänssler Classic
Sinfonien, Flöten-, Cello- & Cembalowerke, Magnificat Wq 171, Passions-Kantate Wq 233 u.a.
Andreas Staier, Jos van Immerseel, Freiburger Barockorchester, Thomas Hengelbrock u.a. deutsche harmonia mundi
Sinfonien Wq. 182 Nr. 1.6 „Hamburger Sinfonien“
Stuttgarter Kammerorchester, Wolfram Christ (Leitung)
hänssler Classic