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275 Jahre Gewandhausorchester Leipzig

Von Bürgerstolz getragen

Das Gewandhausorchester, einer der ungewöhnlichsten Klangkörper der Musikgeschichte, wird 275 Jahre alt

vonChristian Schmidt,

Es ist eine wunderbare Wiese, auf der sich zum Ende jeder Saison in direkter Nachbarschaft zu Zebras, Giraffen und Antilopen des Leipziger Zoos Tausende Besucher sammeln, um dem „Sommer Open Air“ des Gewandhausorchesters zu lauschen. 50.000 sollen es zuletzt gewesen sein – mehr als doppelt so viele, als auf die engen, steilen Ränge der Berliner Waldbühne passen.

Obwohl das Konzert für die Besucher kostenlos bleibt – allfällige prominente Sponsoren ermöglichen dieses Geschenk an die Stadt Leipzig –, zeigen doch die Begeisterungsstürme, wie wach das Interesse für die Kunstmusik in Leipzig ist. Und die konzentrierte Atmosphäre ohne allzu viele Hintergrundgeräusche beweist auch, wie innig verbunden sich das westsächsische Stadtvölkchen mit dem Gewandhaus fühlt.

Konkurrenzunternehmen zur höfischen Musikkultur

Denn es ist sein Orchester: Seit den ersten Klangversuchen am 11. März 1743 im Gasthof „Zu den drey Schwänen“ am Brühl, dem damaligen Zentrum der europäischen Rauchwarenindustrie, waren es stets die reichen Leipziger Bürger und Kaufleute, die in Konkurrenz zur höfischen Musikkultur eigene „Große Concerte“ hören und finanzieren wollten. Die verlegten sie in eine holzvertäfelte Etage eines früheren Tuchmacherhauses, daher der eigentümliche Name ihres Privatorchesters.

Und so heißt es heute noch, obwohl die Zeit über mehrere Konzerthausgenerationen hinwegging. Es sollte noch Jahrzehnte dauern, bis dieser bürgerschaftliche Impuls beispielsweise auch nach Hamburg oder in andere stolze deutsche Städte reichte.

Ein Luxus, den sich die Stadt Leipzig leistet

Der Drang schien einerseits aus dem Ideal der Aufklärung geboren, andererseits einem ungeheuren Bürgerstolz entsprungen, der es sich leisten konnte, mit dem Lebensstandard des fernen Adels mindestens gleichzuziehen. Gespeist wurde diese Mentalität auch dadurch, dass bis zum legendären Untergang der sächsischen Monarchie das Bonmot galt, dass in Chemnitz das sächsische Geld erarbeitet, auf der Leipziger Messe vermehrt und in Dresden verprasst werde. Das älteste dem Bürgertum entwachsene Orchester der Welt verdankt bis heute seine Existenz dem Kunstsinn der Bürgerschaft seiner Heimatstadt.

Gewandhausorchester mit Andris Nelsons und dem Gewandhauschor
Gewandhausorchester mit Andris Nelsons und dem Gewandhauschor © Gerd Mothes

Trotz klammer Kassen leistet sich Leipzig noch immer das mit 185 Planstellen weltweit größte Berufsorchester, bezuschusst es mit 19 Millionen Euro aus der Stadtkasse und erwehrt sich erfolgreich Anwürfen, die so genannte Hochkultur sei zu teuer. Angesichts der haushalterischen Zustände Leipzigs war der Ratsbeschluss vom Herbst 2016, die kulturellen Eigenbetriebe auf gesicherte Füße bis 2020 zu stellen, nahezu historisch. Immerhin unterhält die Stadt auch eine kommunale Oper und wendet derzeit mehr als 47 Millionen Euro dafür auf. Vor fünf Jahren rechnete der in Dresden ansässige Landesrechnungshof vor, die Musiker des Gewandhausorchesters verdienten überdurchschnittlich gut, seien mit fünf von zehn tarifvertraglich möglichen Diensten pro Woche nicht ausgelastet, obwohl die sich auf die drei Spielstätten Oper, Thomaskirche und Konzerthaus verteilen, und der damalige Chefdirigent Riccardo Chailly soll vor einem Jahr das Handtuch geworfen haben, nachdem es möglich schien, dass seine Bezüge veröffentlicht würden.

„… und hier hat das Gewandhaus seinen Sitz!“

Gewandhaus Leipzig
Gewandhaus Leipzig © Jens Gerber

All diese Querelen konnten dem städtischen Orchester nichts anhaben. Der Bürgerstolz, der noch diverse andere Anlässe hat, ist ungebrochen. Fast anrührend ist das, wenn man durch Leipzig spaziert und privaten Führungen lauscht, die am Augustusplatz meistens mit den Worten enden: „Und hier hat das Gewandhaus seinen Sitz, es gehört zu den weltbesten Orchestern!“ Dass dem wirklich so ist, verdankt es neben seiner exquisiten Spielkultur wesentlich seinem edlen, dem so genannten deutschen Klang, den auch die benachbarte Sächsische Staatskapelle in Dresden pflegt. Dunkle Streicherfarben, glänzendes Blech, besonders lyrisches Holz – mit ein bisschen Hörerfahrung erkennt man das Orchester sogar im Radio.

Seit immer mehr internationale Musiker in den Gewandhauskader vordringen, dürfte der Aufwand, ihnen dieses Klangideal nahezubringen, größer geworden sein, denn die neu besetzten Stellen werden nicht zwingend aus Absolventen der Leipziger Musikhochschule besetzt, die der sicher berühmteste Gewandhauskapellmeister Felix Mendelssohn Bartholdy dereinst für den Zweck gründete, ordentlichen Nachwuchs für sein Orchester auszubilden. Heutzutage kommen die neuen Musiker aus aller Herren Länder. Trotzdem hat sich der spezifische Klang erhalten, was im Zeitalter allgegenwärtiger CD-Aufnahmen und einer damit einhergehenden Globalisierung von Klangerfahrungen und –traditionen alles andere als selbstverständlich ist.

Gewandhausorchester Leipzig: Heimatverbundenheit und Weltläufigkeit

Gewandhausorchester. Konzerttournee, Ankunft in Japan, 1961
Gewandhausorchester. Konzerttournee, Ankunft in Japan, 1961 © Bundesarchiv/Wikimedia Commons

Dafür wird das Orchester auf der ganzen Welt geschätzt, seit Arthur Nikisch zum ersten Mal und ausgerechnet während des Ersten Weltkriegs mit den Musikern auf Tournee ging. Aber auch schon vorher waren die Gewandhäusler berühmt, Mendelssohn und Robert Schumann waren nicht die ersten Namen, die mit Leipzig eng verbunden werden. Schon Mozart war hier zu Gast, und als später im 19. Jahrhundert mit Beginn der Gründerzeit Leipzigs Renommee endgültig auf seinem vorläufigen und bis heute nicht wieder erreichten Höhepunkt war, weil hier Messe und Kunst ihre Zentren hatten, konnte man keinen Musikernamen nennen, der nicht wenigstens einmal die Stadt besuchte. Ob Franz Liszt, Johannes Brahms, Peter Tschaikowsky, Gustav Mahler, Edvard Grieg, Richard Strauss oder Anton Bruckner – sie alle musizierten hier, hoben eigene Werke am Pult aus der Taufe und bildeten neben Wien den wichtigsten musikalischen Kristallisationspunkt Europas.

Von dieser Weltläufigkeit profitierte das Gewandhausorchester ebenso, wie es selbst dazu beitrug. Was sich von dieser goldenen Zeit der Hundertschaften an Musikverlagen, Bohémien-Cafés und vor Reichtum nur so strotzenden Messepassagen und Kaufmannshäusern erhalten hat, ist der Stolz auf ein Orchester, das nach wie vor von den Bürgern getragen wird, nun eben durch Steuergelder. Es verwundert daher kaum, dass das Gewandhausorchester Privatkonzerte in städtischen Häusern ebenso verlost, wie es im Plattenbauviertel Grünau ein Musikvermittlungsprojekt unterhält.

Herzlich willkommen, Andris Nelsons

Seit einiger Zeit finden die „Großen Concerte“ nun an drei statt bislang zwei Abenden pro Woche statt. Trotz der 1.900 Plätze im Großen Gewandhaussaal ist dieser bestens gefüllt, teils chronisch ausverkauft: Das Neue Gewandhaus, 1981 vom damaligen Gewandhauskapellmeister Kurt Masur der DDR-Führung abgerungen und – auch das ein typisches Signal – mit einem Konzert für die Bauleute eröffnet, scheint einfach zu klein zu sein für den immensen Bedarf angesichts gewachsenen Interesses, hoher Studentenund Touristenzahlen. Wenn Andris Nelsons, der auf der ganzen Welt hätte den Stab übernehmen können, nun Anfang 2018 in Leipzig als neuer Chef beginnt, steht also der Fortführung eines Goldenen Zeitalters nichts mehr im Wege. Dann haben auch die Leipziger Zebras wieder etwas davon.

Andris Nelsons ist der 21. Gewandhauskapellmeister:

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