Magische Momente mögen der fantastischen Literatur vorbehalten sein, im Fall von Geir Lysne fällt jedoch eine unerwartete Email in diese Kategorie: „Die NDR Bigband hat dich zu ihrem neuen Chefdirigenten gewählt. Frohe Weihnachten.“ Das war kurz vor Heiligabend 2015. Lysne hatte da gerade sein Leben als Musiker auf den Prüfstand gestellt: Komponist, Produzent, Hochschullehrer, Orchesterdirigent, Leader seines eigenen Ensembles, Engagements in ganz Europa, dazu das Saxofon in der Ecke – eine Sache war zu viel. Lysne entschied sich für das Angebot aus Hamburg. Das Instrument rührt er seitdem nicht mehr an. Die Musiker beim NDR beherrschten es ohnehin auf einem Niveau, das er selbst nie erreichen könnte, da komponiere er lieber.
Kommunikation statt Kontrolle
Lysnes Beziehung mit dem Rundfunk-Ensemble begann 2002 auf Anregung von Saxofonist Christof Lauer. Die Chemie zwischen damals noch „Mr. No One aus Norwegen“ und der Bigband stimmte, es folgten Tourneen mit Bobby McFerrin und Nils Landgren. 2013 gewannen sie für das von Lysne arrangierte Album „Big Band“ des Pianisten Stefano Bollani einen Echo Jazz. Seit September 2016 hat er die Chefposition inne, die er selbst so beschreibt: „Wir sind eine Familie und als solche entdecken wir gemeinsam die Musik, tauschen offen unsere Ideen aus und vertrauen einander. Als Leader ist es meine Aufgabe, die Energie der Musiker und deren künstlerische Stimmen zu bündeln. Dabei darf ich nicht zu streng sein.“ Kommunikation statt Kontrolle, es aushalten können, nicht zu wissen, was in der nächsten Improvisation passiert, das gehöre für ihn zum Wesen des echten Jazz.
In später Jugend begann sich der 1965 in Trondheim geborene Sohn eines Ingenieurs für das Genre zu interessieren, nachdem die ersten musikalischen Vorlieben eher The Police und Pink Floyd galten. Im örtlichen Spielmannszug, von denen es in seiner Heimat Norwegen mehr als Kirchtürme gäbe, spielte er fünf Jahre Trompete. Als das mit Zahnspange im Mund nicht mehr ging, wechselte er zum Saxofon und verliebte sich in das Instrument. Von 1988 bis 1992 studierte er es neben Komposition an der Norwegischen Musikhochschule. Mit der Oslo Groove Company seines Kommilitonen Helge Sunde gewann er in dieser Zeit die wichtigste musikalische Auszeichnung des Landes, erkannte aber zugleich, dass seine Zukunft nicht die eines Jazz-Saxofonisten würde. Lysne interessierte sich zunehmend für das Komponieren, beschäftigte sich intensiv mit Folkmusik und reiste nach Afrika. Zurück in Oslo trommelte er ein paar Freunde für die Aufnahme eines Probealbums zusammen: der Beginn des Geir Lysne Listening Ensembles. 2006 erhielt es den Jahrespreis der Deutschen Schallplattenkritik für das vielgelobte Album „Boahjenasti“.
Musikalische Anagramme
„Traditionen bleiben lebendig, indem man sie neu erfindet“, ist Lysne überzeugt. Immer wieder tritt er daher in seinen Werken in geistigen Austausch mit Tonschöpfern wie Strawinsky, Penderecki oder jüngst Bartók. „Ich nehme interessante Stellen, schüttle sie kräftig und schaue, was herauskommt.“ Musikalische Anagramme, die sich in möglichst vielen Parametern vom Original unterscheiden: Aus den im Fortissimo absteigenden punktierten Oktaven zu Beginn von Griegs Klavierkonzert etwa wird eine sanft aufsteigende, groovige Basslinie im Jazztrio. Lange Jahre hört er am Frühstückstisch mit Partitur und Rotstift Musik von Bach bis Schostakowitsch, erweitert so seinen „Werkzeugkasten“. Inspiration fände sich aber genauso gut in Klassikern von Thad Jones und Count Basie sowie in puncto Rhythmus bei einigen Metalbands.
Seine Zeit teilt sich Lysne zwischen Hamburg, wo er siebzig bis achtzig Tage im Jahr verbringt, einem Lehrauftrag an seiner Alma Mater und als Artistic Director des Norwegian Wind Ensemble auf, einer Bläserformation, die er im Improvisieren auf Basis klassischer Werke anleitet. Ruhe findet er zu Hause bei seiner Familie in einem ländlichen Vorort von Oslo, wo er, sich des Klischees im Gespräch bewusst, gerne zu einem skandinavischen Krimi, einem norwegischen Klassiker oder den Ski direkt neben der Haustür greift.
concerti-Tipp:
Das Konzert der NDR Bigband und Geir Lysne aus der Elbphilharmonie im Rahmen des Festivals „Kosmos Bartók“ ist am Samstag, 3. Februar, ab 20 Uhr auch im Livestream zu erleben.