Wie ein Donnersturm bricht sie hinein, geht direkt ins Herz und versetzt ihren Hörer in einen Zustand der Faszination, deren genaue Ursache sich kaum in Worte fassen lässt. Als thunderbolt phenomenon bezeichnen Teile der anglofonen Musikwelt jenen wirkmächtigen Erstkontakt mit der Musik Anton Bruckners. Gerd Schaller war vierzehn, als ihn der Blitz des Spätromantikers bei einer Radioübertragung von dessen vierter Sinfonie getroffen hat. „Sie vereint Monumentales und Intimes in sich und hat kein falsch-übertriebenes Pathos. Das ist ehrliche Musik, die immer hoffnungsvoll endet“, sagt Schaller 45 Jahre später generell über den Komponisten.
Heute zählt er zu den versiertesten Dirigenten in Sachen Bruckner. Unermüdlich ergründet er dessen Klangkosmos. Seit 2007 hat er es sich zur Aufgabe gemacht, sämtliche Sinfonien in allen verfügbaren Fassungen einzuspielen. Als bislang Einziger berücksichtigt er dabei auch akribisch vom Komponisten verworfene Zwischenversionen und Varianten, sofern diese hörbare Unterschiede aufweisen. „Bruckner, der Perfektionist, würde sich wohl wundern und sagen, nur die letzten Fassungen seien erlaubt. Aber er hat seine Entwürfe nicht vernichtet, deswegen machen wir das jetzt.“
„Ich kenne kein Konkurrenzdenken“
Lange lassen Schaller die „total avantgardistischen“ Skizzen zum Finale der unvollendeten neunten Sinfonie nicht los. Er ist überzeugt, dass die Menschen keine Fragmente, sondern ganze Konzerte hören wollen. Intensiv tauscht er sich mit dem renommierten Bruckner-Forscher William Carragan aus, der bereits Mitte der Achtzigerjahre eine erste Vervollständigung herausgebracht hat. Je mehr er Bruckner dirigiert und Quellen studiert, desto stärker keimt in ihm der Wunsch nach einer eigenen Annäherung, die er schließlich 2018 vorlegt. „Ich bin aber nicht missionarisch unterwegs“, betont Schaller.
Ohnehin hält der freischaffende Dirigent nicht viel davon, selbst die Arbeit seiner Kollegen zu bewerten. „Ich kenne kein Konkurrenzdenken, sondern freue mich, wenn ein Werk in seinen unterschiedlichen Aspekten gelesen wird. Es sollte authentisch sein, denn letztlich geht es darum, was die Musik in einem Menschen erweckt.“ Kritiken fasse er demnach als Inspiration auf.
Den Klassikbetrieb in der Praxis erlernen
1965 in Bamberg geboren, wuchs Schaller im oberfränkischen Schlüsselfeld auf, wo er bis heute einen seiner Lebensmittelpunkte hat. Als Kind lernte er Klavier, im Jugendalter kam die Orgel hinzu. Der Weg zum Profimusiker war indes nicht vorgezeichnet. Mit fünfzehn wollte er Priester werden, nach dem Abitur studiert er zunächst einige Semester Medizin, doch letztlich obsiegte die Musik. „Eine emotionale Entscheidung.“ Auf das Studium an der HfM Würzburg folgte die altmodische „Ochsentour“: Engagement in Hannover, Kapellmeister in Braunschweig, GMD in Magdeburg bis 2006. Bruckner spielte in dieser Zeit keine große Rolle. Am Theater habe er das Handwerk am Pult und die Grammatik des Betriebs erlernt. Beides helfe ihm bis heute bei der Vermittlung seiner Klangvorstellung an ein Orchester. Neugierde beweist er auch im Repertoire. 2010 etwa brachte er Carl Goldmarks Oper „Merlin“ mit dem von ihm gegründeten Orchester Philharmonie Festiva zur modernen Erstaufführung, weckte das Requiem des Operetten-Vorreiters Franz von Suppè und die e-Moll-Messe des Bruckner-Förderers Johann von Herbeck aus dem Dornröschenschlaf.
„Es hat sich gefügt“, wiederholt Schaller mehrmals im Gespräch mit Blick auf die Entwicklungen in seinem Leben. Eine solche Fügung ist sicherlich der Ebracher Musiksommer, den er 1990 in „jugendlichem Überschwang“ ins Leben gerufen hat und der sich unter seiner Leitung zu einem intimen wie hochklassigen Festival im heimischen Steigerwald entwickelt hat.
Album-Tipp:
Bruckner: Sämtliche Sinfonien u. a.
Philharmonie Festiva, Gerd Schaller (Leitung) u. a.
hänssler Classics