Irgendwie erinnert einen diese Frau an den Phänotyp der herzensguten Kinderkrankenschwester. Das runde, freundliche Gesicht unter den blonden, oft zum Dutt zusammengesteckten Haaren ist ständig am Strahlen, die blauen Augen geraten ins Leuchten, wenn Julia Lezhneva lächelt. Und das tut sie häufig: Die junge Sopranistin hat bereits die ersten Schritte auf dem Weg zu einer Traumkarriere erfolgreich gemeistert. Jettet um die Welt, singt mit den besten Kollegen und gewann bereits einen Echo. Benebelt solch rasanter Erfolg nicht die Sinne? „Man darf ihn ähnlich wie den Misserfolg nie zu ernst nehmen, sondern muss konsequent seine Ziele verfolgen, sonst scheitert man.“
Tief empfundene Gefühle
Entdeckt per YouTube-Video von Marc Minkowski für die Salzburger Festspiele, lässt sich von der jungen Dame schon ganz kosmopolitisch von „der Lezhneva“ sprechen. Ihr neuestes Händel-Album wirkt vor allem deshalb so instinktiv echt, weil sie sich dem Meister in seinem Frühwerk seelenverwandt fühlt: „Er war sehr jung, und die Gefühle, die er ausdrückt, sind so tief empfunden, dass sie mir einfach sehr nahegehen.“ Für ihre Herkunft völlig überraschend ist das Genre, in dem sie sich bewegt: Als Traumland der historischen Aufführungspraxis und der Barockmusik war Russland bisher nicht bekannt, und so verdankt die Sopranistin ihr Faible denn auch eher einem Zufall. „Ich war zehn Jahre alt, meine Eltern waren erst wenige Jahre zuvor mit mir nach Moskau gekommen, und ich sollte eigentlich Pianistin werden. Da machte mich mein Lehrer auf ein Bartoli-Album mit Giovanni Antonini aufmerksam.“ Dass eine menschliche Stimme so perlen und funkeln, sich so virtuos bewegen kann, war für die Jungstudentin am Konservatorium wie eine Erleuchtung. „Inzwischen hat sich gerade in Moskau aufgrund des großen Bedarfs das Interesse der jungen Musiker an Alter Musik vervielfacht, es gibt sogar schon ein eigenes Departement für historische Aufführungspraxis.“
In der Ruhe liegt ihre Kraft
Gut möglich, dass so aus Russland eine ganz neue Schule wird, die trotz aller Professionalität rein interpretatorisch praktisch bei Null anfängt und damit überall neue Impulse setzen kann. Lezhneva jedenfalls verfügt über diesen Idealtypus einer schlanken Stimme, die ihr Vibrato bestenfalls aus dem Text entwickelt. Ansonsten meistert sie so natürlich, fast schon hemdsärmelig die technischen Schwierigkeiten von Koloraturen und Verzierungen, als wäre es ein Spaziergang – und wirkt dabei doch so unverbraucht und unangestrengt, als wäre diese unartifizielle Art des Singens schon seit jeher en vogue gewesen.
Woher aber nimmt sie mit Anfang 20 solch eine selbstbewusste Natürlichkeit, die dann doch so ganz anders ist als der Kunstgesang einer Cecilia Bartoli? Die Sängerin überlegt lange – und kommt schließlich auf ihre fernöstliche Heimat Sachalin zu sprechen. „Auf so einer Insel wachsen Sie einfach anders auf und nehmen Dinge anders wahr als in einer großen Stadt, wo die Dinge sehr schnell geschehen“, sagt sie nachdenklich. „Dort ist man weit weg von allem, lernt Unabhängigkeit und Klarheit im Denken, weil man durch nichts abgelenkt wird. Die Landschaft dort hat mich schon als Kind inspiriert, und als ich zum Start meiner Karriere anfing, viel zu reisen, begann ich mich meiner Gefühle als Fünfjährige zu erinnern.“ Natürlich sei sie hungrig auf Selbsterfahrung, auf Moskau und die Musik gewesen, als sie damals in die über 6000 Kilometer entfernte Hauptstadt kam, erinnert sich Lezhneva. „Aber meine Ursprünge haben sich erhalten, die sachalinische Ruhe ist mir geblieben.“ Wozu nicht zuletzt der Kontakt zu ihren alten Freunden von damals beiträgt.