Ihr Winken: eine kleine Geste, nicht scheu. Auf den ersten Advent um 14.00 Uhr ist ein Interview per Videochat terminiert – Reisebeschränkungen und der strenge Lockdown für Oper und Konzert lassen eine physische Begegnung nicht zu. Die französisch-italienische Sängerin ist gerade in der Normandie und sang am Abend davor Berlioz’ „Les nuits d’été“. Der Zyklus ist kein signifikantes Œuvre für die 27-Jährige, der Belle Époque um Reynaldo Hahn und Alte Musik weitaus besser vertraut sind als die Hochromantik. Seit drei Jahren steigert sie, nicht immer in zentralen Partien, dafür aber umso nachdrücklicher, die Neugier für ihre Auftritte. Bisheriger Höhepunkt: Bei den Salzburger Festspielen 2020 erhielt sie nach „L’incoronazione di Poppea“ und „Orphée aux enfers“ in der umjubelten Produktion von „Così fan tutte“ ihre erste Hauptrolle – im Großen Festspielhaus. Desandres Despina war keine vorlaute, züngelnde und profitgeile Hausangestellte. Stattdessen entwickelte der Regie-Psychologe Christof Loy mit ihr eine in sich ruhende Frauenfigur, die bei dieser Suche junger Menschen nach wahren Emotionen ebenso leuchtete wie die von Elsa Dreisig und Marianne Crebassa verkörperten Schwestern Fiordiligi und Dorabella. „Despina ist lebenserfahren. Die Partie liegt erstaunlich tief“, erklärt Desandre. Sie prägt also ein ganz anderes Rollenprofil als die silberstimmige Kathleen Battle, der mit Despina ebenfalls in Salzburg der Sprung in die internationale Berühmtheit gelungen war.
Zielstrebig auf unprätentiöse Art
Lea Desandres Appartement in Rouen ist schlicht. „Hier kann ich mich sehr gut auf die nächsten Projekte konzentrieren, Freunde treffen und Energien bündeln.“ Ihre langen Haare trägt sie offen wie zu ihren Konzertauftritten. Sie sagt, was sie denkt, wiederholt sich nicht. Und sie wirkt auf unprätentiöse Art zielstrebig. Diese innere Sicherheit braucht sie unbedingt, denn sie singt viel aus dem Repertoire, für das es an Musikhochschulen die meisten Absolventinnen gibt: Leichter Sopran, lyrischer Mezzosopran – Extremkoloraturen sind selten, die heroischen Charaktere haben noch etwas Zeit. Der Page Cherubino in „Le nozze di Figaro“ oder der Liebesgott Amor in Glucks „Orfeo et Euridice“, derzeit wichtige Partien für Desandre, werden auch an großen Opernhäusern oft mit jungen Ensemblemitgliedern aus den eigenen Reihen besetzt.
Fühlt sie sich in Sopranhöhen oder Mezzolage wohler? „Ich muss mich nicht auf ein bestimmtes Rollenfach festlegen wie in Festverträgen, denn ich bin freischaffend. Ich suche nach den für mich richtigen Anforderungen und Partien, deren Dimensionen mich berühren.“ Den Rat für diese Kriterien erhielt Lea von Joyce DiDonato nach einem Konzert, das sie als 16-Jährige besucht hatte. Die gab ihr auch den warnenden Hinweis, dass es für die außerordentlich junge Gesangsstudentin unbedingt auch Spaß neben der notorisch unsicheren Karriere geben muss.
Ohne Panik und Zukunftsängste
Ihre wahre Stimme und künstlerische Persönlichkeit entdeckte und entwickelte Desandre mit der unbestechlich kompetenten Sara Mingardo in Venedig. Deren Gesangsunterricht begann damit, dass Lea – mit beiden Händen deutet sie den Riesenstapel an – Unmengen von Noten mit ihr damals kaum geläufigen Werken sichten musste. Daraus sollte sie selbst aussuchen, an welchen Stücken sie arbeiten wolle. „Komponisten schrieben meistens für Stimmen der vorgesehenen Besetzung. Heute haben wir alle Möglichkeiten, unser Repertoire selbst auszusuchen.“
Deshalb unterscheidet Lea Desandre nicht zwischen den noch für die Generationen von Frederica von Stade, Agnes Baltsa und Brigitte Fassbaender gültigen und nur in Ausnahmen durchbrochenen Grenzen von Sopran, Contralto und Mezzo. Sie bewundert das gigantische künstlerische Spektrum von Cecilia Bartoli, an deren Seite sie bei den Salzburger Pfingstfestspielen in Mozarts „La clemenza di Tito“ singen wird. „Nach dem Schnellkurs in Repertoire-Auswahl durch Sara wurde mir zum Beispiel bewusst, dass ich mich in Stücken und Partien für Farinelli besser fühle als in Kompositionen für Caffarelli, um es einfach zu sagen.“
Sie zeigt über die Kamera den Klavierauszug von Mozarts „Idomeneo“. Als Idamante wird sie in der wegen der Pandemie verschobenen Produktion an der Berliner Staatsoper Unter den Linden auftreten. Was bedeuten für sie die Zwangspausen während Corona? „Ich habe gelesen, meine Balance stabilisiert und nächste Projekte vorbereitet.“ Wie es ihre Methode zu sein scheint: Interessiert und wach, dabei ohne Panik und Zukunftsängste. Auch Sara Mingardo und Vivica Genaux hatten mehrfach betont: „Du kannst noch besser sein, wenn es für dich neben deiner inneren Berufung als Sängerin ein anderes aktives Leben gibt.“ Diesen inzwischen von so vielen erfahrenen Kolleginnen vernommenen Rat beherzigt sie.
Keine Unterschiede zwischen Herz und Verstand
Obwohl es im Gespräch dazu viele Anlässe gegeben hätte, verwendet Lea Wörter wie „Kunst“, „Zukunft“, „Erfolg“, „Berühmtheit“ und „Karriere“ nicht. Ihre gute Präsenz auf Tonträgern (im April erscheint ihr neues Album) und in den sozialen Netzwerken verdankt sie nur ihren vokalen Leistungen und den Erfolgen beim Publikum. Erhielt sie, vor allem in den letzten Monaten, viele Direkt-Anfragen für Auftritte? Das verneint Lea. In einem filigranen Soloprogramm mit dem Lautisten Thomas Dunford reihte sie beim Festival de Maguelone 2019 Melodien aus Renaissance, Barock und Salons der Belle Époque aneinander. Diese klangen fast wie zeitgenössische Chansons für einen chilligen Sommerabend – nur feiner und versonnener. Natürlich verfügt Desandre über die virtuose Kondition für Rossini-Partien wie Rosina in „Il barbiere di Siviglia“ oder Komödien wie Cimarosas „L’impresario in angustie“, die sie am Pariser Konservatorium gesungen hat. Doch ihr Schwerpunkt besteht momentan eher aus den weichen Koloraturen Händels und Vivaldis, erlesenen Tonpoemen aus Frankreich und dazu viel von jener Musik, die keine Unterschiede macht zwischen Herz und Verstand.