Eigentlich soll das Telefoninterview von ihrem Nürnberger Hotelzimmer aus stattfinden. Doch Viktoria Mullova hat früher als erwartet ausgecheckt. Denn a) war es ihr nach eigener Aussage wichtig, auf einem Spaziergang das mittelalterliche Zentrum der fränkischen Stadt sehen, in der sie abends mit der Staatsphilharmonie Beethovens Violinkonzert spielt. Und b) wollte sie so etwas gegen ihr Lampenfieber tun, das sie immer noch vor Auftritten überkommt. Unglücklicherweise funktioniert nach ihrer Ankunft in der Meistersingerhalle das Telefon in der Künstlergarderobe nicht, so dass der Apparat in der Pförtnerloge herhalten muss. Diese widrigen Umstände scheinen die Star-Solistin aber nicht zu stören. Konzentriert steht sie 30 Minuten lang auf Englisch mit leicht russischem Akzent Rede und Antwort.
Denn London ist zwar seit langem Viktoria Mullovas Lebensmittelpunkt. Ihre Kindheit und Jugend verbrachte die 1959 Geborene aber in Moskau, wo sie sowohl an der Zentralschule für Musik als auch am Konservatorium Geige studierte und ihre Ausbildung bei Leonid Kogan fortsetzte. Dass sie 1980 den Sibelius-Wettbewerb in Helsinki gewann, war für sie wohl wegweisend. Statt in der Sowjetunion Karriere zu machen, setzte sie sich 1983 während einer Finnland-Tournee nach Schweden und von dort aus weiter in die USA ab. Wahlheimat wurde später die britische Hauptstadt, die sie bis heute „großartig“ findet. Rückblickend sei es ihr dank „guter Kontakte“ und der klassischen Musik als „internationaler Sprache“ nicht schwer gefallen, im Westen Fuß zu fassen.
Brasilianische Musik auf eigene Verantwortung
Beleg dafür ist ein sorgfältig aufgebautes, breites Repertoire von barocken bis zu zeitgenössischen Werken, das sie in den letzten 30 Jahren mit den besten Ensembles und Dirigenten live gespielt oder im Studio auf zahlreichen Alben verewigt hat. So weit, so gradlinig und dem gängigen Kanon entsprechend. Doch genauso gibt es eine weniger konventionelle Seite von Viktoria Mullova. Im Frühjahr 2014 erscheint ihre neueste CD mit brasilianischer Musik u.a. von Caetano Veloso. Mit dieser Klang-Exkursion, der 2011 das gemeinsame Crossover-Projekt mit ihrem Ehemann und Avantgarde-Cellisten Matthew Barley „The Peasant Girl“ voranging, wollte die Experimentierfreudige erneut „etwas anderes machen“ und konnte diesen Wunsch bei ihrem Label Onyx problemlos in die Tat umsetzen. Dort fällt sie nämlich alle Entscheidungen selbst, muss dafür aber auch Produktionskosten und Risiko tragen. „Ein großes Orchester kann man sich da natürlich nicht leisten“, räumt Viktoria Mullova ein. Dennoch sei die Rechnung bislang aufgegangen, weil sie an jeder CD deutlich mehr verdiene als bei anderen Labeln.
Geigerpflichten und Muttersorgen
Aus dem Rahmen fällt ebenfalls, dass sie parallel zu ihrem Aufstieg als Violin-Virtuosin drei Kinder von ebenso vielen Vätern bekam. Die organisatorisch aufwändigen Zeiten, in denen dieses Trio engmaschig betreut werden musste, sind vorüber, weil Sohn und die zwei Töchter mittlerweile volljährig sind. Dennoch plant Viktoria Mullova ihre Konzertreisen nicht ohne Rücksicht auf die Familie. Umso mehr freut sie sich über die sechsmonatige Pause, die sie sich „mit zwei Jahren Vorlauf“ ab Frühjahr 2014 freigeschaufelt hat, um sich ausgiebiger ihren Lieben zu widmen und „frische Energie“ zu tanken. Zuvor muss sie aber noch ein „großes Opfer“ bringen: Statt am 19.12. den Geburtstag ihrer Tochter in London zu feiern, spielt sie mit der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen unter Paavo Järvi Schostakowitschs Violinkonzert Nr. 1 in der Hamburger Laeiszhalle. Im Hinblick auf ihre Mutterrolle bedauert Viktoria Mullova das. Beruflich ist dieser Termin genauso wie vier weitere aber ein Anlass zur Freude: In gleicher Besetzung darf sie im Konzerthaus Berlin bzw. in der Bremer Glocke konzertieren. „Ich liebe dieses Orchester“, schwärmt Viktoria Mullova. „Es ist so jung im Geist, will neue Arten des Spielens austesten und lernen – genau wie ich.“