„Vom Vater die Statur, von der Mutter die Frohnatur und die Lust zum Fabulieren“, heißt es bei Goethe. In abgewandelter Form trifft das auch auf die Geigerin Liv Migdal zu. Sie stammt aus einer deutsch-polnischen jüdischen Künstlerfamilie. Ihr früh verstorbener Vater Marian Migdal war ein international angesehener Musiker und Pianist, ihre Mutter Ulrike, eine promovierte Philosophin, ist Literatin und Poetin, ihre Schwester Nadia Schauspielerin.
In diesem auch kritischen und diskutierfreudigen Umfeld eine eigene künstlerische Identität zu finden, war für Liv Migdal nicht schwer, ganz im Gegenteil. Beide Eltern waren dem Leben und den Menschen „vollumfänglich zugewandt“, voller (Selbst-)Ironie, Neugierde auf Unbekanntes, politisch und geschichtlich hochgebildet und interessiert, wie sie erzählt. Eltern, die sie bei allem, was sie machen und nicht machen wollte, unterstützt haben. „Es war nicht immer unanstrengend, aber wenn ich zurückdenke, kann ich nur dankbar sein, dass meine Eltern so waren und sind, wie sie sind.“
Früh erfasste sie der „Sog der Musik“, wie sie es bezeichnet. „Melodien und Rhythmen waren meine Kindheitsflügel“, erzählt sie. „Das Musikmachen bei uns ging beschwingt, mein Vater war kein ewiger Über. Seine Finger flogen über den Flügel, und meine Mutter sang uns oft Lieder vor, und auch Gedichte und Geschichten gehörten früh zu unserer Welt.“ Und dazu kam: „Mein Vater war ein genialer Witzeerzähler! Vieles geschah spontan und oft mit Witz in allen möglichen Alltagssituationen.“ Bereits als Kind in Herne, wo sie 1988 geboren wurde, fand sie es höchst inspirierend, „mit dem Klavierspiel meines Vaters im Ohr in die Musik und die Werke aus den verschiedensten Epochen hineinzuwachsen.
Über die Jahre entwickelte sich da zwischen uns ein sozusagen blindes Zusammenspiel und gemeinsames Atmen, ein wortloses Verständnis. Wir waren über die Musik hinaus auch in vielem auf gleicher Wellenlänge.“ Und Livs drei Jahre ältere Schwester, die zunächst selbst Geigerin werden wollte, baute ihr eine Lego-Spielzeuggeige, auf der Liv mit einem Zweig eifrig fiedelte und dazu die Stücke sang – vom Kinderlied bis hin zu Passagen aus Sarasates „Zigeunerweisen“. „Bei meinen ersten Auftritten“, so erinnert sich Liv, „wurde ich dann in den Programmen, in denen auch meine Schwester spielte, angekündigt als ,Stumme Geige mit Gesang‘.“ Es blieben nicht die einzigen Auftritte; in einem Kindermusical stellte sie bereits als Dreijährige den kleinen Mozart dar.
Völlig in der Musik aufgehen
Heute misst die 35-Jährige den Erfolg eines Musikers, einer Musikerin darin, ob es gelingt, die Botschaft des Komponisten, seine Wahrheit in dem eigenen Spiel zu verkörpern und dabei „ganz bei mir, eben authentisch zu bleiben und die Liebe, die ich für ein Werk empfinde, auf das Publikum auszustrahlen. So dass mein Spiel die Hörer im Innersten berührt.“ Wichtig sei ihr das „In-sich-Hineinhören“ und „sich zu er-hören, was bin ich, was ist meine Musik – nicht kopieren, hier und da etwas imitieren, sondern den eigenen Weg finden: die Werke durch mich hindurch lassen, sie in meinem Spiel erfinden, nicht darstellen, vielmehr in dem Moment des Spiels ganz diese Musik sein.“ Sicherlich ist das ein hoher Anspruch, den sie an sich stellt, aber einer, für den es sich lohnt, hart zu arbeiten.
Musik ist eben „das Ding meines Lebens“, wie sie es formuliert, weshalb sie gerne die Musik von Komponistinnen, meist mit jüdischem Hintergrund, spielt, für die Musik dies eben auch war. Wie etwa die Violinsonaten von Helene Liebmann (1795–1869) oder Lera Auerbachs Suite „Für eine einsame Violine“, an deren Beginn ein hebräisches Gebet steht, sowie die Suite „Ladino“ der 1974 in der Ukraine geborenen Komponistin und Pianistin Anna Segal, die heute in Israel lebt. Zu den Liedern der 1944 in Auschwitz ermordeten Dichterin und Komponistin Ilse Weber, die in mehr als sechzig Gedichten das Grauen des Lageralltags von Theresienstadt beschrieb, hat Liv Migdal einen besonderen persönlichen Bezug. Denn 2008 veröffentlichte ihre Mutter Ulrike Migdal unter dem Titel „Wann wohl das Leid ein Ende hat“ einen biografischen Essay über das Leben von Ilse Weber.