In der Ruhe liegt nicht nur die Kraft, sondern auch das Glück. Letzteres hat für Lorenzo Viotti viel größere Bedeutung als Autorität. Der Schweizer mit dem offenen Blick ist das Gegenteil eines Pult-Dompteurs oder Hypnotiseurs. Es geht offenbar auch anders, denn bei ihm jagt seit knapp drei Jahren ein umjubeltes Debüt das nächste: Salzburger Festspiele, Musikverein Wien, Oper Zürich, Elbphilharmonie, Gewandhaus zu Leipzig. In einer Probenpause zu „La Bohème“, die er am Theater Klagenfurt nach „Werther“ und „Carmen“ einstudiert, nimmt er sich Zeit für ein Gespräch. Dieses wird mehr ein lyrisches Intermezzo als ein quirliges Crescendo.
Mit einem Klick Interpretationen vergleichen
Thema ist nicht Lorenzo Viottis Portfolio zukünftiger Prestige-Verträge. Viel mehr Gewicht haben erlebtes Glück und die Beglückung durch Musik. „Es stimmt eigentlich alles“, sagt er. „Immer bin ich mit großer Freude unterwegs. Das soll so bleiben. Dabei wünsche ich mir nur viel Zeit für meine Familie und Freunde.“ Im Dezember stand er wieder am Pult der Staatskapelle Dresden, dann in Japan mit dem Verdi-Requiem vor dem Tokyo Symphony Orchestra. Im Februar und April folgen in Hamburg und an der Pariser Opéra Bastille Carmen: „Bei Wiederaufnahmen wie in Paris werden Details wichtiger. Das genieße ich auch an der Zusammenarbeit mit Sängern, die ihre Partien beherrschen.“ Kann er sich solche Reprisen noch leisten auf einer Karrierestufe, in der ein schnelles Debüt wichtiger werden könnte als reifende Interpretationen? „Die neuen Medien sind für uns Künstler verräterisch“, meint Lorenzo Viotti. „Mit einem Klick lassen sich Interpretationen vergleichen. Man bemerkt also deutlicher, wenn Konzerte zu Kopien von Stilen und Sensationen werden. Aber so etwas interessiert mich nicht. Mit allen Beteiligten probe ich für unvergessliche, einmalige Momente. Wenn wir das nicht erreichen, verlieren klassische Musiker ihre Daseinsberechtigung.“
Auf der Suche nach der Seele der Partitur: Lorenzo Viotti
Von Lorenzo Viotti als neuem Chefdirigenten erhofft sich das Gulbenkian-Orchester Lissabon Zuwachs an Image und Souveränität. In ganz kurzer Zeit hat er sich ein ganz anderes Repertoire erarbeitet als sein Vater Marcello Viotti. Der Ruf, Musiker motivieren zu können, eilt Lorenzo Viotti voraus. Auf den Proben sucht er mit ihnen die Seele der Partituren in den Klängen. Wo lernt man das? „In Wien war ich einer der wenigen Studenten, die lieber Georges Prêtre bei einer Probe im Musikverein beobachteten oder im Stehparkett der Staatsoper anzutreffen waren als auf dem Konservatorium. Das Handwerk des Dirigenten lernte ich danach an der Hochschule für Musik „Franz Liszt“ Weimar. Dort gab es für mich über Monate nichts als eine Küche, Unterricht und die Bibliothek.“ Erfahrungen sammelte er – ein Luxus für Studierende – bei regelmäßigen Dirigierproben vor der Jenaer Philharmonie. Mit seinem Weimarer Lehrer Nicolás Pasquet verbindet ihn seither eine vertrauensvolle Freundschaft, ebenso dankbar erwähnt er Ekhart Wycik und den früh verstorbenen Weimarer Kapellmeister Mario Hoff. In Weimar lernte er auch, sich selbst einzuschätzen: „Momentan fühle ich mich im Repertoire der Klassik, der Romantik und der Moderne am besten. Für Barock habe ich noch nicht die dafür wichtigen Fachkenntnisse, das können andere viel besser als ich.“
In welcher Richtung liegen zukünftige Leuchtturm-Projekte? „Meinen Sie damit Wagner und Strauss? Dafür habe ich noch ganz viel Zeit. Aber ich lerne viel von der spätromantischen Tonsprache wie vor Kurzem beim Debüt an der Mailänder Scala. Das Konzert mit Werken von Debussy, Rachmaninow, Skrjabin und dem Siegfried-Idyll war sehr poetisch, sehr literarisch.“ Solche Kombinationen liebt Viotti. „Aber heute reicht es nicht mehr, nur zu dirigieren. Betrachten Sie die Vermittlung in anderen Kultursparten, wo einfacher über Inhalte gesprochen wird. Wir müssen verständlich sein und dabei einen ehrlichen persönlichen Zugang zur Musik haben.“ Ein verbindlicher Gruß zum Abschied – gleich beginnt die nächste Probe zu La Bohème. Glück kann so einfach sein.
Lorenzo Viotti dirigiert Puccinis „Manon Lescaut“ an der Oper Frankfurt: