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Porträt Neue Vocalsolisten Stuttgart

Blick in die Zukunft

Die Neuen Vocalsolisten Stuttgart erhalten einen Silbernen Löwen der Biennale di Venezia 2021.

vonFrank Armbruster,

Dass sie einen Silbernen Löwen der Biennale Venedig verliehen bekommen, damit hätten sie überhaupt nicht gerechnet, sagt Andreas Fischer. Der Bass ist Gründungsmitglied der Neuen Vocalsolisten, einem in Stuttgart ansässigen Spezialensemble für neue Vokalmusik, wie es in dieser Form wahrscheinlich kein zweites auf der Welt gibt. Klar, sagt Fischer, stolz seien sie schon gewesen, als sie davon erfahren haben, über „inoffizielle Kanäle“, einige Wochen vor der offiziellen Bekanntgabe. Allerdings sei dann so langsam die Frage ins Bewusstsein eingesickert, wofür man diesen Preis überhaupt erhalten würde. Für das Lebenswerk? Nun, da sei man, obwohl man ja kein ganz junges Ensemble sei, erst mal ein bisschen irritiert gewesen. „Das klingt so nach Rückschau. Und für uns ist das ja gar keine Perspektive. Wir blicken in die Zukunft, das Ensemble erneuert sich ständig.“

Und es führt ständig neue Werke auf. Um die dreißig Uraufführungen singen sie jedes Jahr. Im Coronajahr waren es weniger, in anderen können es aber auch mal doppelt so viele sein, mit manchmal mehr, manchmal weniger vokaltechnischen Widerständen, die es zu überwinden gilt. Was denn das Adjektiv „neu“ im Namen des Ensembles dabei heute noch bedeutet? Gibt es das überhaupt noch, neue Klänge? Das wisse er nicht, sagt Fischer. Klänge, die noch nicht da waren, kenne er ja auch nicht. Zwar hätten sie über die Jahre in ihrer Arbeit eine Art Kanon der Klangmöglichkeiten entwickelt, die von Komponisten, speziell was die Verwendung von Geräuschen und quasi-instrumentalen Techniken anbelangt, auch eingesetzt werden. Andererseits seien die Ausdrucksmöglichkeiten der menschlichen Stimme immens. „Ich habe nicht den Eindruck, dass wir da bereits am Ende sind.“

Demokratisches Ensemble: Neue Vocalsolisten

Gegründet wurden die Neuen Vocalsolisten 1984 von dem Dirigenten Manfred Schreier. Man führte Werke zeitgenössischer Komponisten wie Helmut Lachenmann oder Brian Ferneyhough auf, 12- bis 16-stimmig, je nach Erfordernis. Im Jahr 2000 wagte man den radikalen Bruch. Das Ensemble wurde auf sieben solistische Stimmen vom Bass bis zum Sopran einschließlich eines Countertenors reduziert und arbeitet seitdem ohne Dirigenten. „Demokratisch“, wie Andreas Fischer sagt.

Am Vorabend der Preisverleihung am 20. September im Palast Ca‘ Giustinian in Venedig werden die Neuen Vocalsolisten zwei Werke uraufführen, eines des US-amerikanischen Komponisten George Lewis und eines des Russen Sergej Newski. Ob sie die schon geprobt hätten? Fischer lacht: Es gebe sie noch gar nicht! Zwar hätten sie von Newskis Werk schon mal ein paar Partiturseiten erhalten, um einen Eindruck zu bekommen. Aber es sei häufig so in der neuen Musik, dass man die Stücke quasi mit heißer Nadel vorbereiten müsse, weil die Partituren erst kurz vor der Aufführung eintreffen. Arbeiten unter Zeitdruck, das seien sie gewohnt – was nicht heiße, dass man es liebe. Anders als Instrumentalisten müsse man sich als Sänger in die Stimme eines neuen Werks erst mal „reinsingen“, die Pitches finden. Das sei ein mühsamer Prozess.

Es kann auch schon mal krachen

Und wo lernt man das, die Möglichkeiten vokaler Tonerzeugung zwischen Gesang und Performance, manchmal auch unter Zuhilfenahme von Rasseln, Tröten oder Maultrommeln derart auszureizen, wie das die Neuen Vocalsolisten machen? Zu seiner Zeit, sagt Fischer, hätte man solcherart Vokaltechniken noch nicht in der Ausbildung vermittelt bekommen. Heute gebe es an den meisten Musikhochschulen Abteilungen für Neue Musik, auch die Mitglieder der Vocalsolisten halten regelmäßig Workshops für junge Sänger ab.

Damit sie dieses Niveau halten, ist freilich Disziplin angesagt. Täglich außer montags, wenn die meisten Mitglieder unterrichten, ist Probe angesagt, von 10 bis 18 Uhr. Wenn man über eine so lange Zeit zusammen ist, kann es schon auch mal krachen. Konflikte gebe es, sagt Fischer, Meinungsverschiedenheiten, klar. Aber man kenne sich eben sehr gut und könne so die empfindlichen Stellen der anderen gut umschiffen. Anders gehe es nicht: „Sonst kämen wir nie auf einen grünen Zweig.“

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