Er gilt als radikale, als obsessive Skandalnudel der Oper. Bei Calixto Bieito gibt es garantiert kein Stehtheater zum Wohlfühlen, sondern stets physisch wie psychologisch zugespitztes Musiktheater, das oft polarisiert, das niemanden kaltlässt. Im Gespräch wirkt der Katalane freilich nicht provokant, sondern so bedacht wie liebenswürdig. Hat er sich seit seinen ersten Aufsehen erregenden Inszenierungen im deutschen Norden verändert, als er in Hannover zumal mit Verdis handlungskrudem „Il Trovatore“ für Schockwirkungen sorgte? „Mir fällt es schwer, eine eigene Perspektive auf mich selbst einzunehmen. Dennoch bin ich sicherlich viel ruhiger geworden und werde natürlich älter. Obwohl es schwer ist: Heute versuche ich, mich selbst stärker anzunehmen“, gesteht der 54-Jährige.
Musik spielt seit seiner Kindheit eine große Rolle: Seine Mutter ist Chorsängerin, sein Bruder Musiker, er selbst war Mitglied im Kinderchor der Jesuiten. „Meine Erinnerung geht weit zurück, wie ich als Siebenjähriger Vivaldi sang. Die Musik hat mir seit meiner Jugend geholfen, mit meinem Leben klarzukommen. Als Regisseur darf ich nun Gefühle und Gedanken durch die Musik mit anderen Menschen teilen.“ Die Musik ist für Bieito denn auch der Motor und die Nervenbahn einer Oper. „Aus der Musik beziehe ich meine primäre Inspiration für die Inszenierung. Wenn ich die Musik nicht mag, kann ich eine Oper nicht machen, sie wäre für mich nicht einfach aus dem Libretto inszenierbar. Alles kommt aus der Musik: Sie ist die Landschaft der Fantasie und die gemeinsame Basis für Dirigent und Regisseur, die daraus beide die Farben ihrer Interpretation ableiten.“
Calixto Bieito: Regietheater mit Sprengkraft
Wer kürzlich in Hamburg bei seiner Sicht auf Verdis späte Shakespeare-Anverwandlung einmal mehr eine garantiert nicht jugendfreie, blutspritzende „Bildzeitungs-Oper für die Besserverdienenden“ erwartete, wie in einer ihrerseits sensationsheischenden Kritik über eine Inszenierung zu lesen war, wurde in dieser Hinsicht enttäuscht. „Den Otello habe ich sehr reduziert angelegt. Mich interessieren die Innenwelten der Figuren und deren plötzliche Explosionen.“ Wenn Calixto Bieito sich daran macht, sein Regietheater mit Sprengkraft zu entwickeln, dann funktioniert das letztlich nur, wenn die Sängerdarsteller die Komfortzone des Stehens und Singens verlassen und damit jene entscheidende Grenze überwinden, an der musikalischer Ausdruck zur Wahrhaftigkeit wird. Verrät der Regisseur uns das Geheimnis seiner extrem intensiven Arbeit mit Sängerinnen und Sängern? „Es gibt keinen Trick. Und sollte es ihn geben, dann kenne ich ihn nicht. Die Basis ist Vertrauen und die Vermeidung von Angst.“
Er habe starke Bilder im Kopf und bringe sie in die Arbeit mit dem Team ein. „Die Sänger nutzen diese Bilder, um ihrer Fantasie freien Lauf zu lassen. Jeder wird Teil des kreativen Prozesses.“ Auf diesem Wege entsteht dann eine Freiheit, die Sänger enorm genießen. Sie spüren Bieitos Bekenntnis: „Ich bin ein einfacher Mensch, der ehrlich mit seiner Umwelt kommuniziert.“ Will sagen: Bieito ist kein Scharfmacher, der auf krasse Effekte der Effekte zuliebe setzen würde. „Die Sänger gehen in den Proben oft sehr weit aus sich heraus, so dass ich selbst erstaunt bin. Wir begeben uns gemeinsam in einen sehr starken Prozess, der gleichzeitig angenehm ist. Glücklicherweise leben wir in einer Zeit fantastischer Sänger, die allzu gern die Komfortzone der Kunstproduktion verlassen.“
Tiefer Blick in die Seele
Außenseiter, Andersartige, geschundene Kreaturen am Rande der Gesellschaft sind es kaum zufällig immer wieder, denen Bieito tief in die Seele blickt. Bergs „Wozzeck“, Verdis „Otello“ oder Bizets „Carmen“ gewann er so ganz neue Facetten ab. Oder eben Rameaus „Platée“, die hässliche Sumpf-Nymphe, die im Glauben an die eigene Attraktivität die Intrige des Obergottes Jupiter erst am bösen Ende kapiert. Bieito besetzte die Titelpartie in Stuttgart mit einem Tenor, der die Nymphe als Transvestit spielte. Die Fremdartigkeit dieser armen, nach Liebe hechelnden Kreatur wurde da geradewegs ausgestellt. Es entstand ein erschütterndes Porträt der tragischen Figur eines bitter Zurückgewiesenen.
Calixto Bieito inszeniert „Carmen“: