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Organist Olivier Latry im Porträt

Wenn die Orgel tanzt

Die Orgel kann mehr als nur sakrale Weihen verbreiten. Palastorganist Olivier Latry zeigt, welcher Reichtum in seinem Instrument steckt

vonHelge Birkelbach,

Wenn aufgeweckte Kinder ein Instrument lernen wollen, greifen sie zu Blockflöte, Geige oder auch mal dem kindgerechten 1/16- oder 1/8-Cello. Das sieht niedlich aus und klingt auch meistens so. Nicht so bei Olivier Latry. Er mochte es schon immer eine Nummer größer. Der in der Hafenstadt Boulogne-sur-Mer geborene Franzose startete mit sieben Jahren zunächst am Klavier, bekam dann eine elektronische Drei-Oktaven-Orgel zum Üben und sollte passenderweise bei der Hochzeit des Freundes eines seiner älteren Brüder spielen. Geplant war, dass er seine Heimorgel mitbringt. Darauf entgegnete der junge Künstler: „Wenn es eine Orgel in der Kirche gibt, spiele ich die in der Kirche.“ Er konnte nicht ahnen, worauf er sich da einließ. „Ich kam dorthin und sah ein Ungeheuer mit drei Manualen … Ich habe einfach drauflos gespielt.“

Titularorganist auf Lebenszeit

Seit diesem Tag in Armentières kam er nicht mehr davon los. Latry hatte sein Instrument gefunden. „Seit 30 Jahren ist es das große Glück“, sagt er. Heute ist er Titularorganist an der Kathedrale von Notre-Dame de Paris. Dort übt er nachts, wenn der Kirchenraum leer ist. Zu seinen Aufgaben zählt unter anderem die Gestaltung der sonntäglichen Liturgie.

Gerade in Frankreich ist die Tätigkeit des Titularorganisten hoch angesehen. Während eine Anstellung in Deutschland befristet sein kann, gilt sie bei unseren Nachbarn in aller Regel auf Lebenszeit. So auch bei einem der Vorgänger Latrys, Louis Vierne, der von 1900 bis zu seinem Tode im Jahr 1937 das mächtige Instrument spielte. Wobei „mächtig“ bei weitem nicht übertrieben ist: Die berühmte Orgel, die von Epoche zu Epoche immer weiter wuchs, gehört heute zu den komplexesten Instrumenten der Gegenwart.

Olivier Latry, der „Orgel-Netrebko“

Aber nicht nur den sakralen Werken widmet sich Olivier Latry. Da gleicht er Louis Vierne oder auch Pierre Cochereau, deren Repertoire seinerzeit zunehmend weltliche Kompositionen umfasste. Ihre Meisterschaft entfalteten sie nicht zuletzt in der Kunst der Improvisation, die auch auf Tonträgern oder sogar auf YouTube dokumentiert ist. In der wunderbarenarte-Dokumentation „Die Orgel von Notre-Dame de Paris“ macht es ihnen ihr Nachfolger nach – auf höchstem Niveau.

Latrys freies Spiel ist mitreißend, äußerst raffiniert und technisch brillant. Ein Kritiker, der ihn in Wien erlebt hatte, bezeichnete ihn gar als „eine Art ‚Orgel-Netrebko‘: Wenn er seines Amtes waltet, gerät das Publikum in Ekstase. Ein Organisten-Phänomen.“ Der derart Glorifizierte stapelt einige Etagen tiefer, auch wenn er die Register bis zum Himmelsanschlag zieht. Sein Vorbild war Pierre Cochereau, dem er fast täglich in Notre-Dame zuhören konnte. „Er war ein Meister der Improvisation. Als er starb, war ich 22 Jahre alt. Als das Vorspiel für seine Nachfolge stattfand, war ich 23.“ Olivier Latry setzte sich gegenüber elf Mitbewerbern durch – weil er außergewöhnlicherweise kein Lampenfieber hatte. „Ich war sicher, dass es nicht klappen würde. Das kam mir zupass.“

Die Liturgie als verbindendes Element

Die Herleitung der Improvisation sieht er in der Liturgie. Als verbindendes Element greift sie das Sangliche auf und leitet zum nächsten Teil innerhalb des exakt festgelegten Ablaufs über, der auch über das Visuelle funktioniert. „Es ist also sehr wichtig, dass alles glatt läuft. Aber auf keinen Fall darf das zur Show werden.“ Neben seiner Tätigkeit in Paris ist der Franzose in der aktuellen Spielzeit „erster Palastorganist“ der Dresdner Philharmoniker im jüngst umgebauten Kulturpalast. Dort stehen ihm an der neuen Orgel, die von der Firma „Hermann Eule Orgelbau Bautzen“ gefertigt wurde, stattliche 67 Register und fast 4.000 Pfeifen zur Verfügung. Sie werden sich unter den Händen des agilen Könners sicher nicht verstecken.

Olivier Latry spielt Louis Vierne:

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