Berlin im Winter 2023, die Atmosphäre im Kammermusiksaal der Philharmonie ist hoch konzentriert. Nicht nur das Quatuor Diotima hat sich in Ligetis diffiziles erstes Streichquartett vertieft, auch das Publikum lauscht gebannt – als plötzlich ein kurzes Plop-Geräusch das Spiel abrupt beendet. Primarius Yun-Peng Zhao eilt hinter die Bühne, um die gerissene Violinsaite zu ersetzen. Keine zwei Minuten dauert diese erzwungene Spielpause – und doch geben sich die Musiker beim Interview am folgenden Tag zerknirscht.
„Dass eine Saite reißt, kann immer passieren“, erklärt Geiger Léo Marillier. „Dieses Mal geschah es aber an einer wirklich ungünstigen Stelle, kurz vor dem Ende, da ist die ganze Spannung, die sich aufgebaut hat, auf einmal weg.“ „Andere Ensembles nehmen so einen Zwischenfall wahrscheinlich entspannter hin als wir“, ergänzt Bratscher Franck Chevalier, während die Kollegen zustimmend nicken. Es bestätigt sich im Verlauf des Gesprächs der Eindruck vom Konzertabend: Hier sind Musiker bei der Sache, die ihren Part im Musikleben nicht nur mit viel Hingabe, sondern auch sehr gewissenhaft ausüben.
Zeitgenössische Musik verstehen
Gegründet wurde das Quartett 1996 in Paris, als Cellist Pierre Morlet auf Einladung des Komponisten Alain Bancquart (1934-2022) ein Ensemble für dessen drittes Streichquartett zusammenstellte. „Werke des 20. Jahrhunderts standen für uns von Anfang an im Mittelpunkt“, erzählt Morlet. „Unser Antrieb war und ist, die zeitgenössische Musik zu verstehen, den Entstehungsprozess, die Form und Artikulation.“ So bringen die Musiker regelmäßig Werke zur Uraufführung, vergeben Kompositionsaufträge und arbeiteten zusammen mit Helmut Lachenmann, Toshio Hosokawa, Pierre Boulez oder Thomas Adès.
„Der Dialog zwischen Komponist und Interpret ist sehr wichtig, wir müssen einander verstehen. Im Konzert versuchen wir dann so nah wie möglich an das heranzukommen, was sich der Komponist vorgestellt hat, als er das Werk geschrieben hat“, so Yun-Peng Zhao.
Innovation im Fokus: das Quatuor Diotima
Ein Aspekt, der bei ihrer Repertoirewahl eine wichtige Rolle spielt, ist Innovation. Auch aus diesem Grund haben sie zuletzt Ligetis zweites Streichquartett aufgenommen. „Es ist ein Schlüsselstück des Genres, mit ihm hat sich im 20. Jahrhundert viel verändert. Es greift nicht auf die Tradition zurück, sondern Ligeti entwirft ganz neue Ideen, die nicht wie bisher auf Melodie, Rhythmus und Intonation basieren“, erklärt Yun-Peng, und der zweite Geiger Léo Marillier ergänzt: „Wenn wir ein so revolutionäres Stück spielen, ist es eine größere Herausforderung, sich in den Kopf des Komponisten hineinzuversetzen, als wenn es ein Stück von Mozart oder Haydn ist, wo die Form vor allem durch die Tradition begründet ist.“
In ihrer Diskografie, welche den Musikern bereits zahlreiche Auszeichnungen eingebracht hat, spiegelt sich ihre Entdeckungslust deutlich wider. Mehrere Alben haben sie Komponisten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gewidmet, wie etwa Miroslav Srnka, Alberto Posadas oder Per Arne Glorvigen. „Wir würden auch Ravel und Debussy aufnehmen, schließlich spielen wir die sehr gerne im Konzert“, erklärt Chevalier. „Doch davon existieren schon fünfzig Aufnahmen, warum noch eine weitere hinzufügen? Wir sehen es eher als unsere Pflicht, jungen Komponisten eine Chance zu geben, gehört zu werden.“
„Die Geschichte des Streichquartetts ist noch nicht auserzählt“
Durch ihr intensives Engagement ist das Quatuor Diotima inzwischen zum anerkannten und vielgefragten Botschafter der Gattung geworden, wovon zahlreiche Einladungen als Artists in Residence zeugen, etwa bei Radio France oder der University of Chicago. „Die Geschichte des Streichquartetts ist noch nicht auserzählt“, meint Chevalier, „diese Werkform hat uns immer noch etwas zu sagen. Sie ist auch offen genug für Einflüsse kommender Generationen. Auf der anderen Seite gibt es keine Garantie, dass Menschen in zwanzig oder dreißig Jahren noch dieses Repertoire anhören werden. Deshalb muss man sehr sorgfältig damit umgehen und versuchen, diese außergewöhnliche musikalische Welt an die nächste Generation weiterzugeben.“