Große Sängerpersönlichkeiten machen die von ihnen auf der Bühne verkörperten Figuren durch ihr Charisma noch größer, als sie laut Libretto und Partitur sind. Rachel Willis-Sørensen, die wir an der Bayerischen Staatsoper als Verdis Desdemona erleben, besitzt dieses besondere Bühnen-Gen, durch das man eben nie nur ihrer edel gerundeten, herrlich aufblühenden Sopranstimme lauscht, sondern stets auch einer intensiven Darstellerin zusieht. Im Gespräch am Mittag nach der Vorstellung betont sie, wie sehr es ihr um die Ehrlichkeit des Ausdrucks und Natürlichkeit auf der Bühne gehe. „Ich denke während der Vorstellung zu 95 Prozent über den Text nach, versuche die erste zu sein, die einen Satz sagt oder singt.“ Und die perfekt Deutsch sprechende Amerikanerin ergänzt auf Englisch, weil ihre Muttersprache den Gedanken hier so präzise auf den Punkt bringt: „mean what you say, say what you mean“.
Die eigene Stimme verstehen: „eine Lebensarbeit“
Die außergewöhnliche Wirkung der Künstlerin ist stark zu spüren, wenn man ihre neue CD hört. Noch mehr fesseln ihre unverwechselbaren Abende im Opernhaus: „Ich hatte in meinem Leben oft das Gefühl, hier nicht hinzugehören, nicht in diese Welt zu passen. Denn ich bin zu groß, zu laut, zu auffällig. Aber für die Bühne ist genau das perfekt. Ich beobachte mich dabei zwar nicht, dennoch merke ich an besonderen Abenden, dass da eine Energie ensteht, die es mir erlaubt, meine Magie zu machen. Je tiefer ich in mich hineingehe, desto stärker wird die Brücke zum Publikum.“ Es geht ihr um Hingabe – ein Begriff, der so romantisch ist wie ihr bevorzugtes Repertoire. Das reicht vom Beginn des 19. Jahrhunderts mit Ludwig van Beethovens Leonore im „Fidelio“ über den Belcanto bis zu Giuseppe Verdi, Richard Wagner und Giacomo Puccini – und dann in wohldosierten Ausflügen weiter zu Richard Strauss: Bald wird sie dessen Arabella und Ariadne geben. Vorsichtig ist die ihre Stimme genau beobachtende Sängerin bei der Wahl dramatischer Partien. „Es ist eine Lebensarbeit, die eigene Stimme zu verstehen. Ich singe so lyrisch wie möglich so lange wie möglich.“ Ihr Agent sieht in ihr einen lyrischen Sopran mit einer opulenten Stimme. Die Anfragen, bereits Wagners Senta und Sieglinde zu singen, hat er abgelehnt.
Ideale Verschmelzung der Register
Dennoch liebt es Willis-Sørensen, mit der eigenen Stimme experimentell zu sein. Trefflich fachsimpeln lässt sich mit ihr über technische Fragen wie die harmonische Verbindung der Kopf- und Bruststimme. „Um wirklich mit einer Stimme zu singen, die sich von unten bis oben gleich oder doch ähnlich anfühlt, muss man paradoxerweise an die tiefen und die hohen Töne anders herangehen. Es gibt hingegen in den letzten Jahrzehnten den Trend, die Bruststimme als ungesund und grob anzusehen. Also steuern manche Sänger die untere Lage auch mit der Kopfstimme an. Natürlich darf man unten nicht explodieren, denn dann verliert man seine Höhe. Aber auch ein Sopran braucht für mich die Bruststimme.“ In ihrer Interpretation der Desdemona demonstriert sie diese ideale Verschmelzung der Register, die ihr indes nur ein Mittel zum Zweck des Ausdrucks ist. „Es ist so schön zu spüren, beim Singen den Zweck meines Lebens zu erfüllen, mit diesem musikalischen Material mit den Menschen zu kommunizieren. Gefährlich wird diese Hingabe erst dann, wenn ich den Applaus und die Anerkennung von außen nötig habe. Ich muss selbst erkennen lernen, wie ein Abend war.“