Es war Raubmord: 72 Stimmen heulen, jodeln, stöhnen, summen, lachen, klagen. Einzelne Wörter sind kaum zu verstehen, sehr wohl aber Anklänge jener Angstzustände, die das Opfer bei seiner Ermordung wohl ausgestanden haben muss. Es ist das „Gemälde eines Erschlagenen“. Doch wer steckt hinter der Vertonung dieses beklemmenden Textes von Jakob Lenz?
Mit Anfang 20 nach Deutschland
Auf den ersten Blick fallen die weichen Gesichtszüge auf. Hinter den Brillengläsern kommen sanfte, aber hellwache Augen zum Vorschein. Sie gehören der 1953 als Rumäniendeutsche in Bukarest geborenen Komponistin Adriana Hölszky. Mit Anfang 20 übersiedelte sie gemeinsam mit ihren Eltern – beide Chemiker – sowie ihrer Zwillingsschwester Monika nach Deutschland.
Bereits mit acht Jahren hatte sie damit begonnen, erste Stücke zu komponieren. 1972 studierte sie dann zunächst Komposition bei Stefan Niculescu und Klavier an der Musikhochschule Bukarest und setzte 1976 ihr Kompositionsstudium bei dem kroatischen Komponisten Milko Kelemen an der Musikhochschule Stuttgart fort. Drei Jahre später gewann sie den ersten Preis beim Wettbewerb „Valentino Bucchi“ in Rom. Doch näherte sich Adriana Hölszky der Musik nicht nur theoretisch: Als Pianistin spielte sie einige Jahre zusammen mit ihrer geigenden Zwillingsschwester und der Cellistin Hertha Rosa-Herseni im renommierten Lipatti-Trio. 1980 legte sie ihre künstlerische Abschlussprüfung ab und übernahm einen Lehrauftrag für Musiktheorie und Gehörbildung an der Stuttgarter Musikhochschule.
Auf der ständigen Suche nach etwas, das vorher noch nie da gewesen ist
Hölszkys Musik bietet kaum Anhaltspunkte, an die sich das Ohr schmiegen kann. Sie ist „reich an Farben, nicht genormt, großzügig”, beschreibt sie selbst ihre Musik. Ihre hohe Stimme wirkt sanft, ihre Worte wählt sie mit Bedacht. Trotzdem wirkt sie völlig überzeugt von dem, was sie sagt. Auf einen bestimmten Stil wolle und könne sie sich nicht reduzieren lassen. Woher kommt der Klang? Wo geht er hin? Um diese Fragen dreht sich das Schaffen von Adriana Hölszky. Sie ist auf der ständigen Suche nach etwas, das vorher noch nie da gewesen ist. Für sie bietet die musikalische Welt Qualitäten, die in der alltäglichen Welt nicht zu finden sind.
Ihr erstes Orchesterwerk „Space“, das 1981 im nordrhein-westfälischen Hilchenbach uraufgeführt wurde, bildet den Auftakt zu ihrer Karriere. In dem Stück tastet sich der Klang zunächst vorsichtig, später immer fordernder durch den Raum. Die vier Orchestergruppen scheinen nicht zu wissen, ob sie sich im Streitgespräch oder Dialog befinden. Der Klang ist in ständigem Fluss und zuckt nervös durch den Raum – mittendrin ist der Hörer.
Adriana Hölszky kann auf ein umfangreiches Œuvre blicken
Dieses besonders feine Gespür für den Raum und dessen Wirkung ist vor allem auch in Hölszkys musiktheatralischen Werken zu erfahren. Zur Oper treibe sie die Nähe zum Leben selbst, wie sie einmal in einem Interview erzählte: „Es gibt da so viele Betrachtungsweisen, so viele Zeiten, die alltägliche Zeit, die kosmische Zeit, Zeittunnel, alles. Und es gibt das, was sich zwischen den einzelnen Ebenen abspielt, zwischen der Bühne, dem Graben, den Klängen und Körpern, dem Licht, den Gesten: lauter Korridore, von denen man nicht weiß, wohin sie führen.“
Mit dem für die erste Biennale des Zeitgenössischen Musiktheaters in München uraufgeführten Musiktheater „Bremer Freiheit“ gelang ihr 1988 der endgültige Durchbruch. Inzwischen kann die stets so bescheidene, höfliche und zurückhaltende Komponistin auf ein umfangreiches Œuvre blicken. 1997 erhielt sie eine Professur an der Musikhochschule in Rostock. Drei Jahre blieb Hölszky dort und übernahm von 2000 bis 2013 eine Professorenstelle am Salzburger Mozarteum. Zu ihren Schülern zählen unter anderem Olga Neuwirth, Karola Obermüller und Sven Daigger – die nächste Generation von Komponisten, die auf der Suche nach dem Weg des Klangs sind.
Sehen Sie den Trailer zu „Roses of Shadow“ von Adriana Hölszky, choreografiert von Martin Schläpfer: