Deutsche Opernbühnen strotzen nur so vor Müll. Wahlweise sind sie auch gern mal mit Einbauküchen und designerschicken Büromöbeln vollgestellt. Gemeinsam ist diesen aktualitätsheischenden Bildbehauptungen handelsüblicher Neuinszenierungen ein Realismus, der dem für dumm verkauften Publikum die Transferleistung erleichtern soll, dass selbst das deutsche Mittelalter im Lohengrin oder die italienische Renaissance im Otello sehr viel mit uns Augenmenschen des 21. Jahrhunderts zu tun haben. Selbst zu denken oder gar sich einfühlen zu müssen in die Macht- und Liebesspiele von anno dunnemals, bleibt uns da allemal erspart.
Wo aber bleibt das Geheimnisvolle der immer wieder unmöglichen Kunst der Oper? Wo machen uns Bühnenbilder staunen über das verrückte Schicksal von Tristan und Isolde? Wo ahnen wir noch den Zauber einer keuschen Göttin namens Norma? Welche Künstler unserer Zeit vermögen es, der Oper das ihr gemäße Changieren zwischen den Zeiten und das Schillern zwischen absolut glaubwürdiger Gegenwärtigkeit und vollkommen verrückten Illusionen zurückzugeben?
Weite Horizonte und klaustrophobische Innenwelten
Anna Viebrock ist eine solche Sucherin nach Bühnenvisionen, die fast immer nur scheinbar konkret das Setting eines Stücks vorgeben. Ihre Bildfindungen sind auf immer wieder verblüffende Weise real und surreal zugleich, reißen weite Horizonte auf, obwohl sie meist durchaus klaustrophobische Innenwelten zeigen, in denen die Figuren als Gefangene enger Denk- und Gesellschaftssysteme nach individueller Freiheit streben.
Bedeutendster Unterschied zu den oftmals nur noch beliebigen Kühlschränken und Müllhaufen, die sich andere Ausstatter einfallen lassen, ist ihr sinniges Spiel mit Zeitebenen, die nie einfach nur Gegenwart behaupten, sondern die Entstehungszeit eines Werks in klugen Verweisen mitschwingen lässt. Die bedrückende graue Schachtel der Bayreuther Inszenierung von Tristan und Isolde aus dem Jahr 2005, die von Akt zu Akt weiter in den Abgrund rutscht, zitiert als Decke die Architektur der Villa Schönberg in Zürich, wo Richard Wagner sich einst in Mathilde Wesendonk, die Gattin seines Gönners, unglücklich verguckte – der entscheidende Auslöser für sein größtes Liebesdrama.
Mehrdimensionalität als treffsichere Geheimwaffe bestimmt auch Viebrocks Stuttgarter Ausstattung der Ausgrabung von Jommellis frühklassischer Oper Berenike, Königin von Armenien. Die historische Ebene der Geschichte, die den Liebesverwicklungen eines Feldzugs des Lucio Vero, Mitregent des Kaisers Marc Aurel, nachspürt, ist mit einer marmornen römischen Antike sichtbar; die indes collagiert sie nicht nur mit Tintorettos Gemälde Die Fußwaschung von 1549 mit seiner charakteristischen Perspektive auf eine hinter Säulen sich öffnenden Stadt-Vedute, sondern auch mit profanen heutigen Wohngebäuden – womöglich aus einem von Kämpfen beschädigten und Krisen durchschüttelten modernen Armenien.
Ihr Motto heißt „Das Vorgefundene erfinden“
Im Ergebnis entsteht so eine Musikdramatik im Sog eines Zeitstrahls, der die Figuren zwar in ihren historischen Profilen ernstnimmt, sie gleichwohl hinausträgt in eine ganz gegenwärtige Zerrissenheit und in Empfindungswelten, die uns erschütternd nah sind. Viebrocks Chiffren sind im Sinne der theatralischen Dringlichkeit durchaus entschlüsselbar, bieten dennoch enormes magisches Potenzial.
Mit genialen und durchaus auch irritierenden Tricks verschiebt die Künstlerin die Perspektiven, darin einem Escher oder Piranesi deutlich verwandter als den architektonisch allzu klinisch klaren Bildern ihrer weitaus weniger mutigen Kollegen – da steht dann statt eines Schranks auch mal eine Garage im Wohnzimmer. Die Wunderkammern ihrer ureigenen Bildfindungen verblüffen: Fundstücke aus der wahren Welt da draußen wirken auf der Bühne vertraut und fremd zugleich. Ihr Motto heißt „Das Vorgefundene erfinden“.
Die Gegenwart des Theaters im Hier und Jetzt der Aufführung wird mit der Patina von Vergangenheit aufgeladen und entfaltet zugleich eine utopische Ahnung von Zukunft. Anna Viebrock will der Vergänglichkeit der Zeitkunst des Theaters eine Dimension von Dauer, von Dasein verleihen. Dazu sucht sie für Bühnenbilder wie für Kostüme nach Räumen und Kleidern, die gebraucht sein sollen und eine eigene Geschichte haben.
Erfinderin magischer Zeiträume
Für das Auffinden solcher verlorener Versatzstücke reist sie gern zu Vorstudien an die mit den zu entdeckenden Stücken verbundenen Orte. Für Janáčeks Katja Kabanova bei den Salzburger Festspielen musste dies das tschechische Brünn sein: Der leere Springbrunnen vor dem Janáček-Theater wurde zum Sinnbild für das Wasser, in dem sich Katja ertränken wird; Abbilder real existierender Plattenbauten sollten zudem die Tristesse und die Ausweglosigkeit der Protagonistin veranschaulichen. Aus den Fenstern der Mietskasernen blicken die Nachbarn voyeuristisch auf diese Katja – und die Zuschauer im Saal ertappen sich dabei, auch einen extra intimen Blick in das unheimliche Leben der Tragödin erhaschen zu wollen.
Kein Wunder, dass die Viebrock für ihre Arbeiten besondere Partner braucht: Als Regisseure bevorzugt sie zwei Schweizer – den schlitzorigen Christoph Marthaler sowie den intellektuellen Jossi Wieler. Längst ist die Erfinderin magischer Zeiträume aber auch gesamtverantwortlich für Ausstattung und Regie unterwegs. Nicht selten wird versucht, Viebrocks Ansätze zu kopieren, nur klappt das meist so gar nicht. Denn ihr Rezept der surrealen Realität ist eben keine Masche, sondern entsteht immer wieder neu im aufrichtig neugierig forschenden Ringen um ein Werk und dessen verschütteter und verschlüsselter Wahrheit.
Staatsoper Stuttgart
Offenbach: Les contes d’Hoffmann
Wiederaufnahme: Sa. 19.03.2016
Sylvain Cambreling (Leitung), Christoph Marthaler (Regie)
Jomelli: Berenike, Königin von Armenien
Wiederaufnahme: 16.05.2016
Gabriele Ferro (Leitung), Jossi Wieler (Regie)
Bellini: I puritani
Wiederaufnahme: 08.07.2016
Gabriele Ferro (Leitung), Jossi Wieler (Regie)
Opernhaus Zürich
Rossini: Il viaggio a Reims
Premiere: 06.12.2016
Daniele Rustioni (Leitung), Christoph Marthaler (Regie)
Volksbühne Berlin
Hallelujah
Premiere: 18.02.2016
Christoph Marthaler (Regie)
Prinzregententheater München
Rameau: Les Indes galantes
Premiere: 24.07.2016
Ivor Bolton (Leitung), Sidi Larbi Cherkaoui (Regie & Choreographie)