Startseite » Porträts » Bis zur Explosion

Porträt Thierry Escaich

Bis zur Explosion

Thierry Escaich ist derzeit der wohl größte Rhythmiker der Orgel. „Groove“ ist eines seiner Lieblingsworte.

vonHelge Birkelbach,

Was heißt eigentlich „Tausendsassa“ auf Französisch? Das Wörterbuch wie auch diverse flinke Online-Übersetzer bieten verschiedene Varianten an – die schönste ist sicherlich „le touche-à-tout“. Also jemand, der alles anfasst, neugierig wie ein kleines Kind und unbekümmert die Welt begreift und in seinem Sinne neu formt. Solch ein Mensch ist Thierry Escaich. Trotz seiner 55 Jahre wirkt der Wuschelkopf mit seinem verschmitzten Lächeln jugendlich-spontan, was er im Gespräch mit ausladenden Gesten noch betont. Da wird ein Crescendo zu einem zum Himmel aufsteigenden Vogel, ein Klangraum wird mit beiden Händen zu einer Kugel geknetet, verschiedene Einflüsse aus Klassik, zeitgenössischer Musik, Jazz und Rock schaufeln die ausgestreckten Arme aus der Luft herbei, wo die flirrenden Finger Partikel erhaschen und sie schließlich zu einem imaginären Tongebilde verdichten.

Wie schön, dass Thierry Escaich auf einen Videochat bestand und kein Telefoninterview führen wollte. Das Bildhafte, das Bewegte und das Farbigstrahlende, das ist seine Welt. Die Kamera hat er seitlich zum Klavier im Pariser Konservatorium aufgebaut, wo er seit 1992 als Professor für Komposition und Improvisation lehrt. Für den quirligen touche-à-tout bedeutet die Lehrtätigkeit aber nur eines seiner vielen Betätigungsfelder. Gleichzeitig wirkt er auch als Komponist, Organist und Improvisator. In welcher Reihenfolge, ist vollkommen egal. „Alles bedingt sich gegenseitig“, sagt er.

Neue Farben

Wer zum ersten Mal Kompositionen des Franzosen hört oder ihn sogar live bei einer Improvisation erleben kann, wird überrascht sein, wie rhythmisch mitreißend und klanglich pulsierend seine Musik ist. Orgel ist langweilig? Keineswegs! Orgel mit Orchester gepaart? Ein nuanciertes Wogen bis hin zur Explosion. Ein Ineinanderfließen der verschiedenen Farben und Positionen im Raum, ein „Integrieren in beide Richtungen“, wie Escaich sagt. In seiner Komposition „La Barque solaire“ kann man das gut hören. Im Oktober 2008 wurde das Werk im Berliner Konzerthaus uraufgeführt. Anlass war der 100. Geburtstag von Olivier Messiaen, der ebenso wie Escaich als Komponist, Titularorganist, Improvisator und Lehrer tätig war und damit entscheidend die Musik des 20. Jahrhunderts prägte. Der wesentliche Unterschied: Escaich hat Bodenhaftung. Die christlich motivierte Transzendenz, ja Anbetung und Durchdrungenheit seines Landmannes, der morgens in aller Frühe den göttlichen Geschöpfen des Himmels, den Vögeln, lauschte, ist ihm fremd. Beide verbindet jedoch die Neigung zu berauschenden und teilweise fremden Klangfarben. „Ich wollte neue Farben hinzufügen“, erklärt Escaich.

Zwei musikalische Standbeine

Sein erster Kontakt mit einer großen Orgel geschah auf eine Einladung hin. Und es war eine wirklich große Orgel: die von Notre-Dame de Paris. „Ich war Teenager, vielleicht achtzehn Jahre alt“, erinnert er sich. „Als ich anfing, dachte ich, ich steuere einen Jumbojet, so überwältigend war das Gefühl! Seither weiß ich: Die Orgel ist ein ganzes Orchester. Ich höre Violinen, Flöten, Hörner, die verschiedenen Mischungen und Kombinationen. Und entsprechend komponiere ich auch, für ein Orchester namens Orgel.“ Seit 1997 ist er mit einer speziellen Orgel eng verbunden. In der Kirche von Saint-Étienne-du-Mont in Paris, wo schon Maurice Duruflé wirkte. In dessen Tradition kann man Escaich als Titularorganist bei Messen sowie bei Konzerten und Improvisationen hören.

Die französische Schule des 19. Jahrhunderts – von César Franck über Gabriel Fauré bis Louis Vierne – und schließlich eben Duruflé seien prägend für seine Arbeit, sozusagen sein erstes Standbein, sagt Escaich. Das zweite geht auf seine Kindheit zurück – und überrascht: „Mein erstes Instrument war ein Akkordeon! Und es war nicht klassische Musik, die ich zunächst hörte und spielte, sondern Varieté-Musik und Tango. Ich spielte Piazzolla, sogar Disco auf dem Instrument. Da kommt der Groove her. Ich liebe den Groove! Aber die Rhythmen, die ich nutze, sind keineswegs einfach, sondern sehr komplex. Meine Musik hat manchmal eine dunkle Seite, romantisch, sehr intensiv, bis hin zum Atonalen.“

Termine

Auch interessant

Rezensionen

Klassik in Ihrer Stadt

Newsletter

Jeden Donnerstag in Ihrem Postfach: frische Klassik!