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Porträt Kurt Sanderling

Unerbittlich auf der Suche nach Einverständnis

Kurt Sanderling, langjähriger Chef des Konzerthausorchesters, wäre dieses Jahr 100 geworden

vonMatthias Nöther,

Fast 99 Jahre war Kurt Sanderling alt, als er im Herbst 2011 in Berlin verstarb, der Stadt seiner Jugend und seiner großen Erfolge. Noch rund zehn Jahre vor seinem Tod hatte das Berliner Publikum ihn regelmäßig am Pult jenes Orchesters erleben können, dessen Chefdirigent er von 1960 bis 1977 war: des heutigen Konzerthausorchesters. Damals, wenige Jahre vor dem Mauerbau, war es in Ostberlin als Berliner Sinfonie-Orchester neu gegründet worden. Sanderlings späten Dirigate der 1990er Jahre im damaligen Schauspielhaus am Gendarmenmarkt zeigten einen alten und erfahrenen und zugleich immens modernen Orchesterleiter:

Sanderling gehörte zur legendären Generation der um 1910 geborenen Pultstars – Herbert von Karajan, Georg Solti, Sergiu Celibidache zählten zu seinen Altersgenossen. Dies waren Dirigenten, die ihre Orchester mitunter durch einen unerbittlichen Führungsstil prägten. Unerbittlich konnte Sanderling zwar auch sein, gerade bei seinem neu gegründeten BSO, das er nach dem Mauerbau und dem Abgang vieler Mitglieder in den Westen mit jungen, unerfahrenen Musikern verändern musste. Damals habe sein Spitzname dort durchaus „Schinderling“ geheißen, so erinnerte sich Sanderling später verschmitzt. Doch wer sich an den alten Kurt Sanderling erinnert, weiß auch, was ihn von vielen Altersgenossen unterschied und eher mit viel später geborenen Dirigenten verband: seine Verbindlichkeit, seine Suche nach Einverständnis mit den Musikern noch im Moment der Aufführung. Einen Schostakowitsch etwa ließ Sanderling auch mit achtzig, als dieser Komponist im wiedervereinigten Deutschland längst ein unumstrittener Klassiker war, nicht so gnadenlos abschnurren wie viele Andere. Er suchte noch immer nach der Wärme in den kargen musikalischen Landschaften seines einstigen russischen Freundes, den er nach dessen Tod 1975 als „einen Bruder im Leben“ bezeichnete.

Die Sowjetunion war das Land, das Kurt Sanderling in einer entscheidenden Phase seiner Karriere prägte. Noch nach dem Beginn der NS-Zeit 1933 hatte der junge Pianist und Klavierbegleiter, als Jude nun akut bedroht, einige Zeit beim Jüdischen Kulturbund in Berlin gearbeitet. 1935 wurde Sanderling ausgebürgert und floh zu einem Onkel nach Moskau. Dort studierte gerade ein deutscher Dirigent mit dem Moskauer Rundfunkorchester einen Zyklus von Mozart-Opern konzertant ein. Ein junger deutscher Musiker wie Sanderling, der seit seinen Anfängen als Korrepetitor an der Städtischen Oper in Charlottenburg 1931 diese Opern „schon aus dem Effeff kannte“, war da „natürlich höchst erwünscht.“

Auch als Dirigent war Sanderling in der UdSSR der dreißiger und vierziger Jahre, wie er später unumwunden zugab, zunächst aufgrund von Personalproblemen gefragt – gerade nach dem dortigen Kriegsbeginn 1941. Er wurde Chef der Staatlichen Philharmonie in Charkow, dann Co-Dirigent der Leningrader Philharmonie, die im Krieg ins sibirische Nowosibirsk evakuiert wurde. Sanderling war bei den Musikern bald beliebter als der eher gefürchtete Chefdirigent Jewgenij Mrawinski.

Noch nach dem Krieg verdiente sich Sanderling lange in der Sowjetunion seine Sporen, ihm wurde 1956 sogar die Leitung der Leningrader Oper angetragen. Doch Sanderling sah sich als Konzertdirigent – und Personalprobleme gab es in der DDR ebenfalls genug, so dass er 1960 nach Ostberlin ging. Der Aufbau und der Erhalt des Berliner Sinfonieorchesters sollten für ihn eine Lebensaufgabe werden – ohne Kurt Sanderling sähen dieses Orchester und das heutige, gesamtberliner Musikleben ohne Zweifel anders aus.

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