Echte Altistinnen sind auf Konzertpodien und Opernbühnen eine Rarität. Deshalb werden sie fast noch mehr umworben als hochdramatische Soprane, heldische Tenöre und tiefe Bässe. Andererseits aber ist die Zahl tatsächlicher Alt-Aufgaben im Musiktheater überschaubar. Gaea in Richard Strauss‘ bukolischer Tragödie „Daphne“ gehört zu ihnen und gilt als tiefste Partie für Frauenstimme überhaupt. Auch die Hexe in Humperdincks „Königskinder“ und die Fürstin in Puccinis „Schwester Angelica“ sind Partien, für welche Besetzungen mit profunder Tiefe schwer zu finden sind. Genau dieser Repertoire-Bereich ist das bevorzugte Terrain von Wiebke Lehmkuhl.
„Ich habe eine von Natur tiefe Stimme mit Komfortzone im Alt-Repertoire von Johann Sebastian Bach. Künstliches Abdunkeln liegt mir deshalb fern.“ beschreibt sich Wiebke Lehmkuhl, die in der ganz tiefen Lage auf Weltspitzen-Niveau agiert. Ein Kritiker aus Hamburg bestätigte: „Sie sind doch ein ganzer Alt, kein halber Sopran.“ Es macht bei unserem Gespräch Neugier und Spaß, die spezielle Stimmlage der in Oldenburg geborenen, in Norddeutschland mit Partnerin und Kindern lebenden sowie international präsenten Künstlerin zu präzisieren. „Aus Ihren Aufnahmen vernehme ich eine beruhigende Tröstlichkeit“, zitiert sie die Worte eines in der Palliativmedizin tätigen Arztes. Für sie war das eine der wichtigsten Anerkennungen ihres Sängerinnenlebens.
Regelmäßige Auftritte mit Nikolaus Harnoncourt, Ton Koopman, Philippe Herreweghe und Hermann Max stärkten Wiebke Lehmkuhls Leidenschaft für Alte Musik. Auch dem Musiktheater gehört seit dem noch als Studentin begonnenen Festvertrag an der Oper Zürich ihre Liebe. „Dabei hätte ich sicher keine typische Mezzosopran-Karriere machen können. Partien wie Dorabella in ,Così fan tutte‘ und Prinzessin Eboli in ,Don Carlos‘ wird man von mir nicht hören.“ Eine Entwicklung von der weisen Erda zu Wotans impulsiver Gemahlin Fricka schließt Wiebke Lehmkuhl dagegen nicht aus, beide Figuren sind in der Partitur mit „tiefer Sopran“ definiert. Als Urmutter Erda in „Das Rheingold“ und „Siegfried“ gastiert Wiebke Lehmkuhl zum Beispiel in Genf, Paris, London. In dieser Partie ist sie derzeit führend wie vor ihr nur noch die legendäre Ortrun Wenkel. Nächste Produktion ist der „Ring“ in der Regie von Tobias Kratzer an der Bayerischen Staatsoper München.
Verhindert eine aus Weltruhm vielleicht entstandene Festlegung nicht andere Leidenschaften von Wiebke Lehmkuhl, vor allem im barocken Repertoire? „Ich langweile mich ganz gewiss nicht“, kontert sie mit freundlicher Bestimmtheit. „Die Erda ist eine Partie, bei der ich keine Angst haben muss und ganz frei über meine Stimme verfügen kann. Diese Harmonie, im idealen Moment zu sein, gehört zu den Höhepunkten des Singens überhaupt.“
Große Spannweite
Eine ähnliche Harmonie und innere Beglückung empfindet sie in der Alten Musik. Da brilliert sie in den großen Soli ihrer Stimmlage. „Mein zentraler Fokus liegt absolut bei den Alt-Partien in den Sakral- und Konzertwerken von Bach, Händel, Mendelssohn, Dvořák und Mahler.“ Die Einteilung in verschiedene Gesangsfächer ist ein Hilfskonstrukt, das von jeder Stimme und Persönlichkeit anders genutzt und gefüllt wird. Deshalb ist Wiebke Lehmkuhl nicht traurig darüber, dass sie manche italienische und von ihren Kolleginnen begehrte Paradepartien für dramatischen und damit oft hohen Mezzosopran nicht singen wird. Mit Partien des barocken Repertoires wie Cornelia in Händels „Giulio Cesare“ und Neros verlassener Gemahlin Ottavia in Monteverdis „Poppea“ wird sie reichlich entschädigt. „Als typisch italienische Stimme sehe ich mich ohnehin nicht“, meint Wiebke Lehmkuhl. Allenfalls die Wahrsagerin Ulrica in Verdis „Maskenball“, wenn sie nicht hässlich singen muss, und vor allem Mrs. Quickly in „Falstaff“ würden sie reizen – neben einer anderen Wunschpartie: der Schauspielerin Clairon in Richard Strauss’ „Capriccio“.
Ein bedeutendes Aufgabenfeld sind für Wiebke Lehmkuhl Orchesterlieder. Ihr künstlerisches Ideal verwirklicht sie also mit einer großen Spannweite vom Alt-Solo in Mahlers „Das Lied von der Erde“ bis zum Einsatz für bislang nicht realisierte Wunschprojekte wie Penelope in Monteverdis „Il ritorno d’Ulisse in patria“: „Ich suche immer nach Natürlichkeit und Authentizität des Ausdrucks. Deshalb muss ich so gut vorbereitet sein für alles, was der Moment erfordert.“