Sachlichkeit kann eine Haltung sein. Das Kapitel „Frauengeschichten“ enthält folgendermaßen betitelte Abschnitte: Aloisia Bogner; Josefine Lang; Marie Bartl; Katharina Kachelmayr. Ein lapidarer Einschub, aufbereitet im ersten Teil des Buches, der sich mit Bruckners Leben vor der Linzer Zeit auseinandersetzt. Meist sind in Komponistenbiografien die „Frauengeschichten“ (was für ein bescheuertes Wort!) psychoanalytische Kaffeesatzleserei, um ästhetische oder künstlerische Grundhaltungen zu interpretieren, sie öffnen manchmal sogar fiktionale Deutungsräume jenseits historischer Ernsthaftigkeit: Bruckner als ungelenker Katholik, der viel zu jungen Damen nachstellt, das passt halt einfach ins Bild.
Genau solche „Brucknerbilder“, wie Felix Diergarten sie nennt, möchte der Autor in seiner Biografie „prüfen, verfeinern, bestätigen oder widerlegen“. Dies tut der Luzerner Professor für Musikwissenschaft auf angenehm nüchterne Art, nennt ohne Lust an der Besserwisserei jene Quellen, die zu diesem oder jenen verzerrten Brucknerbild geführt haben. Allzu süffig liest sich das nicht, was aber sein Gutes hat: Die etwas mehr als 200 Seiten bieten ohne jedwede Ausschweifungen und Exkurse einen detailreichen Blick auf das Leben und Werk Bruckners – und auch darauf, wie er sich in die jeweiligen Soziotope eingebracht hat. In Diergartens Ausführungen erscheint der Komponist nämlich als durchaus kontaktfreudiger, von der Gemeinschaft geschätzter Geselle, der halt so seine Schrullen hatte und wenig Wert auf gut sitzende Hosen legte. Auch Bruckners Religiosität kommt in diesem Buch auf den Prüfstand. Um es vorwegzunehmen: Wie bei den Bemühungen um die Liebesgunst mancher Frauen mag das Sakrale schon seinen Raum in der Seele des Komponisten eingenommen haben. Doch wurde auch da so manche Äußerung oder Notiz Bruckners allzu sehr überhöht und überinterpretiert. „Anton Bruckner. Ein Leben mit Musik“ wird nicht die einzige Publikation in den kommenden Monaten sein, bis im September Bruckners 200. Geburtstag begangen wird. Der ideale Einstieg in das Brucknerjahr ist sie aber allemal.
Anton Bruckner – Ein Leben mit Musik
Felix Diergarten
J.B. Metzler, 243 Seiten
29,99 Euro