Hyperinflation, Ruhrbesetzung, Radikalisierungen, Aufbrüche: Der Essener Musikwissenschaftler Tobias Bleek nimmt das Krisenjahr 1923 unter die Lupe. Er bringt uns das Musikleben und die verzweifelte „Tanzwut“ mit Jazz – und was dafür in Europa gehalten wurde – nahe. Auch die ersten Schritte in der Reihentechnik von Schönberg, Strawinskys „Les noces“ und „Oktett“ sowie Bartóks betont anti-nationalistische Tanz-Suite. Antisemitische Auswüchse und grelle Nationalismen werden behandelt sowie die frühen Gehversuche im Rundfunk. Bleek bringt keine kalendarische Hitliste von Events, sondern blickt genau in die Werkstätten der Komponierenden und auf Premieren, auf exemplarische Zeitphänomene und Tendenzen. Seine Perspektive ist erfreulich weit, da interdisziplinär, auch ökonomisch und soziologisch.
Gleichzeitig beschreibt er konkret und anschaulich, belegt mit Zeitdokumenten und Zeitzeugenberichten. Bleibt nur die zwar griffige, aber insgesamt problematische Metapher des „Taumels“ im Buchtitel: Sicherlich bewirkten Kriegsfolgen und Hyperinflation gewaltige Erosionen. Aber nicht alle Umbrüche waren hilflos schwankend, gerade die avantgardistischen Musikschaffenden hatten die volle Kontrolle über ihre künstlerischen Mittel. Hindemith, Schönberg, Strawinsky, Milhaud, Bartók etwa wussten genau, was sie taten. Und was hat es mit einem Taumel zu tun, wenn afroamerikanische Blues- und Jazz-Interpreten wie Bessie Smith, Lilian Hardin und Louis Armstrong ihre ersten mutigen Schritte unternehmen?
Im Taumel der Zwanziger. Musik in einem Jahr der Extreme
Tobias Bleek
Bärenreiter/Metzler, 316 Seiten
29,99 Euro (VÖ: Juli 2023)