Im August 1990 siedelte ich mit meiner Familie um. Wir fuhren in die DDR und wussten, dass wir nicht mehr zurückkehren werden. Zwei symbolträchtige Dinge nahm ich in meiner Tasche aus Moskau mit: den Roman „Die Brüder Karamasow“ und eine Taschenpartitur von Mahlers „Lied von der Erde“. Es war eins der ersten Werke von Mahler, die ich überhaupt gehört habe. Mein Vater hatte eine Schallplatte mit den New Yorker Philharmonikern unter Bruno Walter. Ich war ungefähr fünfzehn Jahre alt und gerade dem Musikkolleg am Moskauer Konservatorium beigetreten. Selbstverständlich konnte ich damals noch nicht alles, was es in diesem Werk zu enträtseln gibt, verstehen. Aber der erste und der letzte Satz haben sich mir sofort eingeprägt.
Eine wasserfarbene Tönung der Musik
Weil Mahlers Werke auf den Programmen in der damaligen Sowjetunion selten waren, hat es lange gedauert, bis ich die anderen Stücke von ihm kennen gelernt habe. Später wurde mein Verhältnis zu diesem Zwitter aus Sinfonie und Liederzyklus immer intensiver. Ich entdeckte, dass sich der Komponist wie ein Dichter betätigte. Die altchinesischen Gedichte vertonte Mahler nicht einfach, sondern fügte sie neu zusammen. Der Komponist hat sich in seinen letzten Lebensjahren mit dem Zen-Buddhismus beschäftigt und sich auch musikalisch einem meditativen Stil zugewandt. Daher hat das „Lied von der Erde“ eher so etwas wie eine wasserfarbene Tönung, jedenfalls kommt es ohne Pathos aus. All seine musikalische, literarische, kulturelle und menschliche Erfahrung sind in dieses Werk eingeflossen.