Es gibt Komponisten, die schaffen es, einen einzigen „Hit“ zu schreiben, das eine Stück, das jeder kennt. Dazu gehört das Lied „La Paloma“. In zahlreichen Sprachen teils übersetzt, teils neu gedichtet, soll es zu den am meisten aufgenommen Musikstücke gehören. Geschrieben hat es ein Spanier, von dem kaum jemand gehört haben dürfte: Sebastián de Yradier (1809–1865). Yradier hat es nie ins Rampenlicht berühmter Tonsetzer geschafft, obwohl er die Vorlage für eine weitere weltberühmte Melodie geschaffen hat. Nur dass diesmal nicht einmal sein Name angegeben wurde.
Georges Bizet (1837–1875), selbst eine Art „One-Hit-Wonder“ mit seiner Oper „Carmen“ von 1875, bediente sich für ein Lied aus genau jener Oper großzügig bei einem angeblichen spanischen Volkslied mit dem Titel „El Arreglito“. Mit nur wenigen Änderungen wurde daraus die Habanera „Ja die Liebe hat bunte Flügel“ oder – wie es in wörtlicher Übersetzung heißen würde – „Die Liebe ist ein rebellischer Vogel“. Einziger Hinweis bei Bizet, dass diese Musik eigentlich gar nicht von ihm stammt, ist eine Anmerkung im Klavierauszug: „Nach einem spanischen Lied, das im Besitz des Verlages Ménestrel ist.“ Pech für Yradier, er bleibt der unbekannte Schöpfer dieser vor erotischer Ausstrahlung nur so strotzender Musik. Die Habanera an sich ist noch weiter gereist, denn sie stammt ursprünglich aus Kuba.
In „Carmen“ sind die Helden Figuren des Alltags
„Carmen“ wurde als Opéra-comique komponiert, einer Form des Musiktheaters, in der wie beim deutschen Singspiel geschlossene Musiknummern im Wechsel mit gesprochenen Dialogen stehen. Sie galt als Gegenstück zur Hofoper bzw. im 19. Jahrhundert zur Grand Opéra. Der Aufmarsch der Kinder in „Carmen“ wirkt in diesem Zusammenhang eher wie eine Parodie auf einen echten Soldatenaufmarsch, wie er in der Grand Opéra üblich gewesen wäre. Dennoch bedeutete „comique“ nicht unbedingt komisch, sondern oft einfach anrührend. Helden waren Figuren des Alltags. „Carmen“ verhalf der Opéra comique, deren Blütezeit vorüber schien, etwas verzögert zu neuem Glanz, bevor sie durch das durchkomponierte Drame lyrique ersetzt wurde.
Die Mischung aus Schauspiel und Gesang war und ist schwer umzusetzen, denn Sänger sprechen oft nicht überzeugend, während Schauspieler meist nicht gut singen können. Doch davon unabhängig kamen Dialoge in Frankreich Ende des 19. Jahrhundert ohnehin aus der Mode. So wurden für viele Opern nachträglich Rezitative eingefügt, mal von den Komponisten selbst, im Fall von „Carmen“ aber durch Bizets Freund Ernest Guiraud (1837–1892).
Celéstine Galli-Marié als Carmen bei der Uraufführung
Obwohl die Werke der Opéra-comique schlichter waren und sein sollten als die der Grand Opéra, schienen mit „Carmen“ viele der Beteiligten überfordert. Die Sängerin Marie Roze lehnte die Hauptrolle wegen des Charakters ab, und erst nach langem Ringen konnte Celéstine Galli-Marié überzeugt werden. Trotz der mehr als hundert Proben (davon 81 mit den Sängern) sah Bizet sich genötigt, einige Chorpassagen zu streichen, darunter auch solche, in denen der Chor gar nicht singt, sondern nur agiert.
Die von Bizet selbst ausgesuchte Textgrundlage wurde bei der Bearbeitung zum Opernlibretto stark verändert. Aus dem unglücklichen Stierkampfgehilfen Lucas wird der strahlende Torero Escamillo. Micaëla wird als „Gegenspielerin“ zu Carmen erfunden, hat gegen diese aber trotz Sopranlage weder musikalisch noch als Figur eine ernsthafte Chance.
Die Sprengkraft steckt in der Handlung
„Carmen“ war nicht von vornherein erfolgreich. Mit einzelnen Musiknummern sowie in der ganzen Tonsprache konservativ, steckt die Sprengkraft einzig in der Handlung. Eine Geschichte um Schmuggler, Soldaten und Arbeiterinnen wäre vom Uraufführungspublikum vermutlich akzeptiert worden. Doch mit der Figur der Carmen – selbst im Milieu des einfachen Volks als „Zigeunerin“ am Rand der Gesellschaft – geht Bizet weit über das in der Opera-comique Übliche hinaus.
Durch ihren Drang nach einem selbstbestimmten Leben, das dem Frauenbild des 19. Jahrhunderts überhaupt nicht entspricht, aber auch durch ihre erotische Ausstrahlung schafft sie es, einem Soldaten, dem tragischen Helden Don José, derart den Kopf zu verdrehen, dass dieser desertiert und zum Schluss sogar zum Mörder wird. „Carmen bleibt sich bis zuletzt treu – und José fremd“, wie Mathias Husmann in den 99 Präludien schreibt. Es war nicht nur der fehlende heitere Schluss: Auch sonst bot die Oper für die damaligen Zuschauer zu viel des Neuen und Anrüchigen. Den bald einsetzenden, riesigen Erfolg erlebte Bizet nicht mehr: Er starb drei Monate nach der Uraufführung. Doch schon 1905 wurde die 1000. Aufführung der Oper vermeldet.
Guirauds Bearbeitung für die zweite Produktion
Nach dem Misserfolg in Paris stellte sich als zweites Theater für eine Produktion ausgerechnet die Wiener Hofoper zur Verfügung. Guiraud fügte hierfür allerdings nicht nur 15 Rezitative, sondern auch drei Tanzeinlagen im letzten Akt, basierend auf anderen Werken Bizets, ein: Der Schauspielmusik zu „L’Arlésienne“ und der Oper „Das Mädchen aus Perth“. Auf der anderen Seite strich er einen Chor vom Anfang und eine Strophe aus dem Duell Don José/Escamillo. Die ersten Notenausgaben gaben diese bearbeitete Fassung wieder. Die angeblich für Wien bestellten Rezitative wurden schließlich aus unbekannten Gründen wieder gestrichen – vielleicht, weil keine Zeit für die Einstudierung blieb, vielleicht aber auch, weil Ende des 19. Jahrhunderts in Wiener Opernaufführungen noch gesprochene Dialoge üblich waren.
Die wichtigsten Fakten zu Bizets „Carmen“:
Orchesterbesetzung: Zwei Flöten, zwei Oboen, zwei Klarinetten, zwei Fagotte, vier Hörner, zwei Pistons (Trompeten), drei Posaunen, Schlagzeug inklusive Kastagnetten, Harfe, Streicher. Bühnenmusik: zwei Pistons, drei Posaunen
Spieldauer: 2 ¾ Stunden
Uraufführung: Die Uraufführung fand am 3. März 1875 in der Operá comique in Paris statt.
Referenzeinspielung
Bizet: Carmen
Teresa Berganza, Plácido Domingo, Ileana Cotrubas, London Symphony Orchestra, Claudio Abbado – DGG 1977
Es gibt zahlreiche Aufnahmen der Oper. Die meisten verwenden die Fassung mit hinzugefügten Rezitativen. Claudio Abbados Produktion von 1977 ragt schon deshalb heraus, weil er sich an Bizets Original hielt. Keine Balletteinlage, aber auch keine Kürzungen, wie sie sich lange eingebürgert hatten. Dafür enthält die CD die originalen Dialoge. Wie gut die Sänger französisch sprechen, kann nur ein Muttersprachler beantworten. Für den deutschsprachigen Hörer klingt es allemal überzeugend – zumal die Regie die Dialogszenen fast hörspielartig angelegt hat. Auch musikalisch kann die CD absolut überzeugen – mit Teresa Berganza in der Hauptrolle, Plácido Domingo in seinen besten Jahren und Claudio Abbado, der das London Symphony Orchestra ordentlich zum Glühen bringt.