(Entstehungszeit 1822, UA Wien 1865)
Schubert – das war ein frühvollendeter Komponist unzähliger Lieder, von Kammermusik und Tänzen. Seine sechs kleinformatigen Symphonien galten als unbedeutend – bis Robert Schumann 1839 eine große Symphonie in C-Dur, geschrieben 1827, entdeckte. Dann tauchte 1860 ein Symphoniefragment in h-Moll auf: zwei vollendete Sätze und der Anfang eines Scherzos. In der Annahme, dass wohl der Tod dabei Schubert die Feder aus der Hand genommen hätte, zählte man Die Große als Nr.7 und Die Unvollendete als Nr. 8.
Die h-Moll-Symphonie ist aber schon 1822/23 geschrieben – und abgebrochen worden. Vielleicht genügte Schubert der Einfall zum Scherzo nicht, sodass er die Arbeit liegen ließ und aus den Augen verlor. In der Tat sind die beiden fertigen Sätze vollendet – so vollendet, dass nichts fehlt, und sie sind aufeinander bezogen wie Bild und Gegenbild. Beide bewegen sich im Dreiviertel- bzw. Dreiachteltakt bei fast gleichem Tempo: Allegro moderato = Andante con moto. Darf man den ersten Satz als „irdisch“ ansehen, so versteht sich der zweite Satz als „himmlisch“.
Erster Satz – Allegro moderato h-Moll („irdisches Bild“):
– das leise Bassthema winkt dir, zu folgen – du steigst hinab,
– eine klagende Gestalt erscheint: Oboe und Klarinette über bewegten Streichern,
– eine Tür öffnet sich: modulierende Hörner und Fagotte,
– eine lächelnde Gestalt erscheint: Violoncelli über tänzerischen Bläsersynkopen,
– du näherst dich – die Gestalt weist dich ab – tiefer Schmerzmoment: Generalpause, Tuttiausbruch,
– die Tür schließt sich: Rückmodulation mit Pizzicatoschritten,
– nun führt das Bassthema dich in den Abgrund deines Selbst – schwärzer kann eine Durchführung nicht anheben …
Zweiter Satz – Andante con moto E-Dur („himmlisches Gegenbild“):
– die leise, angedeutete Hörnerkadenz winkt dir, zu folgen – du steigst hinauf,
– Heiterkeit umfängt dich: Streicherlegato, Choral,
– der Raum wandelt sich: modulierende Violinen,
– Traurigkeit umfängt dich: Klarinettensolo über schluchzenden Streichersynkopen,
– du näherst dich – die Traurigkeit nimmt dich an – tiefer Glücksmoment: Engführung Bass/Violine,
– der Raum wandelt sich: Rückmodulation mit Bläsersignalen,
– in der Coda führt die nun vollendete Hörnerkadenz dich in den Himmel deines Selbst – der Raum scheint sich wieder zu wandeln, aber auch die Klarinetten – bisher Künder der Traurigkeit – stimmen den Ton der Heiterkeit an: Freude und Schmerz sind eins – lichter kann eine Symphonie sich nicht vollenden …
Der erste Satz schloss abgrundtief und hoffnungslos. Und doch gibt es einen zweiten Satz. Dieser verklingt lächelnd und leicht, voller Hoffnung auf das, was es nicht geben wird – das ist Schubert.
(Mathias Husmann)